Editorial: Absurde Handystrahlenforschung
Es ist wichtig, die Gefahren der von uns Menschen verwendeten Technologien kontinuierlich zu erforschen, um daraus Handlungsanweisungen für den Einsatz ebendieser Technologien abzuleiten. Die Superfaser Asbest (reißfest, feuerbeständig und gut dämmend) wurde beispielsweise schon vor Jahrzehnten verboten, weil sie sich als zu gefährlich herausgestellt hat: Schon das Einatmen von geringen Mengen Asbeststaub kann noch Jahrzehnte später schwere Krebserkrankungen hervorrufen.
FCKWs werden nicht mehr als Arbeitsgas in Kühlschränken und Klimaanlagen verwendet, weil sie die Ozonschicht im Winter beschleunigt abbauen. Auch nach deren Verbot wurde das Ozonloch zunächst noch einige Jahre lange größer, was freilich von den Wissenschaftlern vorhergesagt worden war: Nur ein Teil der FCKWs wird bei der Herstellung der Geräte freigesetzt. Dieser entfiel natürlich sofort nach dem Verbot. Aber der größere Teil wurde und wird bei der nicht fachgerechten Entsorgung von alten Kühlschränken und Klimaanlagen frei. Dieses Problem dauert bis heute an. Doch weil der Bestand an Altgeräten naturgemäß immer weiter abnimmt, nehmen die aus Kühlschränken und Klimaanlagen freigesetzten FCKW-Mengen inzwischen immer weiter ab. Und tatsächlich verkleinert sich das Ozonloch seit einigen Jahren wieder.
Andere Stoffe lassen sich nicht vollständig vermeiden. Stickoxide entstehen bei jeder Verbrennung als Nebenprodukt. Da sie die menschliche Gesundheit belasten, wurden die Stickoxid-Grenzwerte in den letzten Jahren wiederholt abgesenkt: Automotoren dürfen immer weniger davon emittieren, und auch die Durchschnittswerte, die in Wohngebieten akzeptiert werden, wurden wiederholt abgesenkt. Leider halten sich nicht immer alle an die Regeln: Weil bei Dieselmotoren die erste Generation der Stickoxid-Filter AdBlue als zusätzlichen Betriebsstoff benötigten und die Autoindustrie es gerade den kostensensitiven Dieselkunden nicht zumuten wollte, künftig regelmäßig eine weitere Flüssigkeit tanken zu müssen, entschied man sich, den Stickoxid-Filter aus vorgeschobenen Motorschutzgründen so gut wie immer abzuschalten. So werden die Grenzwerte bei der Zulassung und der ASU eingehalten, im normalen Alltagsbetrieb wird aber das Zehnfache oder mehr des Zugelassenen emittiert. Und weil die Politik sich weigerte, die Autohersteller zur Rücknahme oder Hardware-Nachrüstung der Betrugsdiesel zu verpflichten, lassen sich nun die Stickoxid-Grenzwerte für die Bevölkerung in vielen Städten nur mit Diesel-Fahrverboten einhalten.
Grenzwerte sind zwangsläufig widersprüchlich
Wirklich gefährlich: Handy in der Hosentasche?
Bild: supaleka-fotolia.com
Ein weiteres Problem ist, dass es bei so gut wie keinem die Umwelt
belastenden Stoff so etwas wie einen sicheren Grenzwert gibt, unter dem
die Belastung verschwindet. Ein bisschen Stickoxid macht halt ein
bisschen krank,
mehr Stickoxid macht mehr krank. Und so kommt es zum Interessenskonflikt
zwischen Industrie (die meist möglichst hohe Grenzwerte will),
Nutzern (die meist im Einklang mit der Industrie möglichst hohe
Grenzwerte wollen) und allgemeiner Bevölkerung (die meist
möglichst niedrige Grenzwerte will). Gut zu sehen ist das am Beispiel
der bereits erwähnten Stickoxide: Die WHO empfiehlt einen Grenzwert
von 20 µg/m³, die EU schreibt einen Grenzwert von 40 µg/m³
vor, an Arbeitsplätzen sind jedoch nach MAK bis zu 950 µg/m³
zugelassen.
Vor einigen Jahren hätte der hohe Unterschied zwischen MAK- und EU-Grenzwert wahrscheinlich noch zu Schimpftiraden auf die Arbeitgeberlobby geführt, der es anscheinend gelungen ist, für die besonders stark mit Stickoxiden belasteten Arbeitsplätze beim Schweißen oder in bestimmten Bereichen der Chemieindustrie eine großzügige Ausnahmeregelung durchzusetzen. Inzwischen läuft die Wutwelle eher anders herum: Wenn einem Arbeiter 950 µg/m³ zumutbar sind, wie wagt es dann die EU, gar nur 40 µg/m³ festzusetzen?
Nun, bevor man die Werte überhaupt direkt vergleicht, muss man sich klarmachen, dass der MAK-Wert eine Maximalbelastung ist. Wird die auch nur kurzfristig überschritten, muss die Produktion komplett eingestellt werden, bis wirksame Maßnahmen getroffen sind, die künftig erneute Grenzwertüberschreitungen verhindern. Auf realen Arbeitsplätzen liegt die Durchschnittsbelastung zudem deutlich niedriger: Kein Schweißer schweißt acht Stunden am Stück durchgehend, sondern er hat lange Arbeitsphasen, in denen die zu schweißenden Stücke präpariert oder später die Schweißnähte geprüft werden. Nur während des Schweißens selber entstehen aber die Stickoxide und nur dann ist die Belastung hoch.
Folglich stehen dem Maximalwert von 950 µg/m³ selbst auf stark belasteten Arbeitsplätzen Durchschnittswerte von 300 µg/m³ und weniger während der Arbeitszeiten gegenüber. Rechnet man noch die Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche und typisch 45 Wochen im Jahr (ein paar Wochen fallen ja wegen Urlaub, Feiertagen und üblichem Krankenstand weg) auf das Gesamtjahr von 168 Stunden mal 52 Wochen hoch, dann verbleibt eine effektive Jahresbelastung der Atemluft von Schweißarbeitern von 62 µg/m³. Wenn man schließlich noch bedenkt, dass der MAK-Wert für gesunde Arbeiter gilt, während der Vorsorge-Wert der EU ja auch einbezieht, dass neben der Straße nicht nur Menschen im besten Alter, sondern auch besonders gefährdete Junge, Alte und Kranke wohnen, dann verflüchtigt sich in diesem Fall der Unterschied zwischen EU- und MAK-Wert gar ins Nichts. Wer dennoch den MAK-Wert für Straßen fordert, soll dann auch fordern, dass bitteschön weder Wohnungen noch Krankenhäuser neben diesen Straßen gebaut werden und Kinder nur noch mit Atemschutzmaske neben der Straße zur Schule laufen dürfen. Denn Kinder sind nun mal keine Arbeiter.
Grenzwerte für Mobilfunk
Es ist die Aufgabe der eingangs erwähnten intensiven und regelmäßigen Forschung, Basisdaten für die Festlegung von Grenzwerten zu liefern. Leider ist diese Forschung nicht immer seriös, sondern oft von Interessen getrieben. Über der Zigarettenindustrie nahestehende Ärzte, die das Rauchen selbst dann noch als "belebend" bezeichneten, als die Krebsgefahr von Aktiv- und Passivrauchen in einer erdrückenden Zahl seriöser Studien bereits bewiesen war, ist in vielen Medien in den letzten Jahren ausführlich geschrieben worden.
Ähnlich wird auch den Mobilfunkunternehmen vorgeworfen, die Gefahren von Handystrahlen kleinzureden. Als "Beweis" für die Gefährlichkeit der Handystrahlen werden dann Studien wie Chromosome damage in human cells induced by UMTS mobile telephony radiation von Dimitris J. Panagopoulos angeführt. Bei dieser wurde bei von einem 3G/UMTS-Handy bestrahlten Immunzellen eine Zunahme der Chromosomenschäden während der Teilung von 100 bis 275 Prozent beobachtet.
Haltlose Studie
Als Medikamentenstudie wäre die verlinkte Studie dabei glatt durchgefallen, weil sie offensichtlich nur teilweise verblindet war: Die Auswertung, wie viele Gendefekte jede Probe aufwies, erfolgte den Angaben zufolge zwar "blind", also ohne, dass der jeweilige Labormitarbeiter wusste, ob er eine bestrahlte oder unbestrahlte Probe vor sich hat. Die Probenvorbereitung erfolgte den Angaben zufolge sogar gemeinsam für beide Proben. Doch die eigentliche Bestrahlung (mit eingeschaltetem Smartphone) bzw. Fake-Bestrahlung (mit abgeschaltetem Smartphone) war ebenso wenig verblindet wie die anschließende Aufbereitung der Proben für die mikroskopische Auswertung auf Chromosomenschäden. Erst die finale Auswertung der mikroskopischen Aufnahmen erfolgte laut Studienbeschreibung blind.
Denkbar sind nun sowohl versehentliche Einflüsse, als auch gezielte Manipulation während der nicht blinden Phase. So wurde die echte Bestrahlung immer vor der Fake-Bestrahlung durchgeführt. Vorher wurden beide Proben gemeinsam vorbereitet, nach der Bestrahlung wurden beide Proben dann fixiert und für die Mikroskopie vorbereitet. Ein unabsichtlicher Fehler könnte beispielsweise sein, dass im Bestrahlungsraum neben dem Smartphone ein eigentlich für einen anderen Versuch verwendetes radioaktives Präparat vergessen worden war, und dieses die Zellen in den Proben entsprechend geschädigt hat, und nicht die Handystrahlen. Zwar waren dann beide Proben gleich lang der bekanntermaßen stark schädigenden radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Doch bei der ersten (zusätzlich mit dem Handy bestrahlten) Probe erfolgte die radioaktive Exposition entsprechend früher, sodass bis zur Fixierung die lebenden Zellen der ersten Probe entsprechend länger Zeit hatten, sich in das Stadium weiterzuentwickeln, in dem die Genschäden dann auch nachgewiesen werden konnten.
Sowohl Bestrahlung als auch Fake-Bestrahlung dauerten den Angaben zufolge jeweils 15 Minuten, wobei die ersten 15 Minuten jeweils der "echten" Bestrahlung galten. Geht man von gleichverteilten Schäden durch das angenommene vergessene radioaktive Präparat aus, dann hatten vom Zeitpunkt der Schädigung durch die Strahlung bis zur Fixierung die Zellen in der bestrahlten Probe im Schnitt 22,5 Minuten Zeit, sich in das Stadium der Zellteilung weiterzuentwickeln, in dem dieser Schaden nachweisbar ist. In der "nicht" bestrahlten Probe (wo das vergessene radioaktive Präparat natürlich trotzdem wirkte!) waren es hingegen im Durchschnitt nur 7,5 Minuten zwischen einem "Wirkungstreffer" eines Quants der radioaktiven Strahlung auf die DNA und der Fixierung der Probe.
Den Zeitverzug zwischen Strahlenschäden und Nachweis derselben kennt man übrigens aus dem Alltag: Wenn man zu lange ohne Sonnenschutz der starken UV-Strahlung der Mittagssonne ausgesetzt war, zeigt sich der daraus folgende Sonnenbrand dennoch erst am späten Nachmittag oder Abend.
Im Ergebnis würde man aufgrund der unterschiedlichen Zeitspanne zwischen Bestrahlung und Nachweis des Schadens eine Verdreifachung der Zahl der ermittelten Chromosomenschäden bei der zuerst bestrahlten Probe erwarten, entsprechend dem Verhältnis von 22,5 / 7,5. Vergehen nach der zweiten Bestrahlung noch weitere dreieinhalb Minuten bis zur Fixierung, zum Beispiel, weil Chemikalien vorbereitet werden oder die Proben (wie im Protokoll beschrieben) in einen anderen Raum gebracht werden, sinkt der Faktor auf (22,5 + 3,5) / (7,5 + 3,5) = 2,36. Tatsächlich wurden in der Studie in den zuerst bestrahlten Zellen 551 Chromosomenschäden gefunden, in den danach bestrahlten Zellen hingegen nur 235 Schäden. Das entspricht einem Faktor von 2,34.
Schon das Design, immer dieselbe Reihenfolge zwischen "Bestrahlung" und "Nicht-Bestrahlung" zu verwenden, macht die Panagopoulos-Studie aus den genannten Gründen unbrauchbar: Was auch immer im Bestrahlungsraum passiert, die "bestrahlten" Proben haben mehr Zeit darauf zu reagieren, also mikroskopisch sichtbare Schäden zu zeigen, als die "nicht bestrahlten". Es ist schade, dass eine solche offensichtlich unzulängliche Studie dennoch den Peer-Review-Prozess passieren konnte.
Sauberes Studiendesign möglich
Es wäre technisch auch überhaupt kein Problem, die Panagopoulos-Studie voll zu verblinden: Dazu wird auf dem Smartphone eine App installiert, die mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit einen 15-minütigen Anruf entweder mit einer oder mit 19 Minuten Verzögerung startet. Die eine Minute Verzögerung dient dazu, dass der Experimentator den Bestrahlungsraum nach dem Einsetzen der Probe und dem Starten der App verlassen kann, ohne, dass er sieht, ob der Anruf nun erfolgt oder nicht. 17 Minuten nach dem Verlassen betritt der Experimentator wieder den Bestrahlungsraum und wechselt in der folgenden Minute die Probe. 18 Minute nach dem Experiment-Start verlässt er den Raum erneut, bei Minute 19 beginnt dann durch die App die Bestrahlung der zweiten Probe, falls die erste Probe nicht bestrahlt wurde, und umgekehrt. 35 Minuten nach Experimentbeginn kann der Experimentator dann die zweite Probe abholen.
Die App meldet nicht zurück, ob der Anruf im ersten oder zweiten Zeitfenster erfolgte, entsprechende Einträge im Gesprächsprotokoll des Smartphones werden automatisch gelöscht (wozu man das Gerät möglicherweise rooten muss, was aber ebenfalls kein unumgängliches Hindernis ist). Die spätere Auswertung, wann das Bestrahlungsgespräch erfolgte, wird erst NACH der Probenauswertung und der Zählung der Genschäden über den EVN des Mobilfunkanbieters durchgeführt.
Extreme Effekte!
Ich habe bereits mehrere Studien zu angeblichen Effekten von Mobilfunkstrahlung gelesen, die ähnlich wie die Panagopoulos-Studie extreme Effekte zeigten. Derartige Studien sind aber schon aus anderen Gründen komplett unglaubwürdig: Würde schon ein normales Handygespräch die Mutationsrate derart stark nach oben treiben, wie von Panagopoulos konstatiert, dann würde sich die Haut nach einem mehrstündigen Handytelefonat zunächst röten und später schuppen wie bei einem Sonnenbrand. Zudem wären die Hautarztpraxen voll mit Patienten mit Hautveränderungen bis hin zum hellen Hautkrebs im Bereich der Brust und des Gesäßes, also überall dort, wo Smartphones üblicherweise in Taschen am Körper getragen werden, und wo sie auch im ausgeschalteten Zustand Datentransfers durchführen, um beispielsweise neue Fotos in die Cloud zu speichern. Zwar ist heller Hautkrebs so gut wie nie tödlich und in 99 Prozent der Fälle (ggfls. nach mehreren Therapieversuchen) heilbar, das zusätzliche Auftreten in Handystrahlen-exponierten Bereichen wäre aber dennoch auffällig.
Die zitierte Panagopoulos-Studie ist für mich also kein Anlass, die Grenzwerte für Handystrahlen zu senken, aber sehr wohl ein Anlass, die Anforderungen an das Peer-Review zu erhöhen.