Editorial: Kongress mit Pandemie?
Mit Thermometern wird die Körpertemperatur von Reisenden aus China auf dem Flughafen von Neu Dehli (Indien) gemessen.
Foto: Picture Alliance / dpa
Fast 15 000 bestätigte Infektionen mit dem neuen
Coronavirus und knapp über 300 Todesfälle listet die
Übersichtsseite des John Hopkins CSSE.
Und die Zahlen steigen immer schneller:
Am 1. Februar 2020 kamen erstmals über 3 000 neue
Infektionen hinzu.
Weiterhin unklar ist die Gefährlichkeit des Virus: Die Provinz Hubei, in der auch die am stärksten betroffene Stadt Wuhan liegt, meldet bisher 9 074 Infektionen und 294 Todesfälle. In der restlichen Welt, also allen weiteren chinesischen Provinzen und allen anderen Ländern zusammen, gibt es weitere 5553 Infektionen, aber nur 11 Tote. Die naiv als "Zahl der Toten durch Zahl der Infizierten" berechnete Sterblichkeit liegt somit in Hubei bei 3,2 Prozent, im Rest der Welt hingegen bei 0,2 Prozent.
Natürlich drängt sich die Frage auf, wie es sein kann, dass die Sterblichkeit in Hubei um mehr als den Faktor zehn höher liegt. Im Netz kursieren dazu bereits Statements von "Fachleuten", die annehmen, dass sich das Virus aufgrund der hohen Mutationsrate mit jeder Virusgeneration abschwächen würde und sowieso bald totlaufen würde. Nur: Das müsste auch für Hubei gelten. Daher halte ich diesen Erklärungsansatz für untauglich. Er birgt die riesige Gefahr, dass man sich in falscher Sicherheit wiegt!
Überlastetes Gesundheitssystem
Mit Thermometern wird die Körpertemperatur von Reisenden aus China auf dem Flughafen von Neu Dehli (Indien) gemessen.
Foto: Picture Alliance / dpa
Wahrscheinlicher dürfte die Erklärung sein, dass in Wuhan, aber auch
generell in der Provinz Hubei, das Gesundheitssystem schlicht und einfach
überlastet ist. Infizierten mit milden Symptomen wird dort geraten:
"Bleiben Sie unbedingt zu Hause und achten Sie darauf, niemanden
anzustecken. Nur, wenn es schlimmer wird, rufen Sie den Notruf".
Es werden zwar in Wuhan in Windeseile neue
Krankenhäuser in Container-Bauweise entstehen. Nur: Obwohl sie noch
nicht einmal fertig sind, würden sie schon jetzt nicht reichen, alle
Infizierten aufzunehmen.
Wenn es schon nicht genug Krankenhausbetten für alle schweren Fälle gibt, dann fehlen natürlich erst recht die Kapazitäten, um Massenscreenings vorzunehmen, wie im Fall "Webasto" in Deutschland geschehen: Dort wurden über hundert Mitarbeiter auf 2019-nCoV getestet, die im Verdacht standen, dass sie sich angesteckt haben könnten. Bei sieben wurde eine Infektion bestätigt. Ein Mitarbeiter hat das Virus auch bereits an sein Kind weitergegeben, obwohl er selber noch gar keine Symptome zeigte. Dadurch ergeben sich die acht bis Samstag Abend in Deutschland bekannten Fälle.
Zwei weitere 2019-nCoV-Fälle kommen nun in Deutschland durch den Evakuierungsflug der Bundeswehr aus Wuhan hinzu: Obwohl es ausdrücklich hieß, dass nur gesunde Menschen an Bord genommen werden sollen, erwiesen sich bei den Tests nach der Landung zwei der Menschen an Bord als infiziert. Auch dieser Umstand lässt nicht gerade auf besonders sorgfältige Coronavirus-Tests in Wuhan schließen.
Reale Infektions- und Sterberaten
Nimmt man an, dass das Coronavirus in Hubei genauso gefährlich ist wie außerhalb Hubei, und dass die Coronavirus-Diagnostik bei schwerem Verlauf und Todesfällen in- und außerhalb Hubeis ähnlich gut ist, dann bleibt einem nichts anderes üblich, als die Infiziertenzahlen für den - aufgrund der obigen Argumente sehr wahrscheinlichen - Diagnose-Rückstand bei Fällen mit mildem und mittelschweren Verlauf in Hubei zu korrigieren. Zugleich wird die Todesrate für die Infizierten außerhalb Hubeis in den kommenden Tagen noch steigen: Bei früher Diagnose, wie bei den bereits zitierten Webasto-Mitarbeitern, dauert es entsprechend länger, bis schwere, lebensbedrohende Symptome auftreten. Anfangs hieß es, dass alle Webasto-Mitarbeiter symptomfrei sind, inzwischen ist von "leichten Symptomen" die Rede. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden wir in einigen Tagen von "schwerer Erkrankung" bei zumindest einigen der Webasto-Mitarbeiter lesen. Dennoch ist die frühe Diagnostik äußerst sinnvoll: Sie hilft, die Betroffenen zu isolieren und so Folge-Ansteckungen zu vermeiden. Und es gibt einige antivirale Medikamente, die wahrscheinlich gegen 2019-nCoV wirksam sind, und die natürlich um so mehr helfen können, je früher nach Infektionsbeginn man diese bereits erhält.
Der oben erwähnte hohe Unterschied zwischen der Sterblichkeit in Hubei und der Sterblichkeit im Rest der Welt erklärt sich also wahrscheinlich durch den Unterschied der Diagnose-Aktivität: In Hubei sind unzählige leichte bis mittelschwere Fälle gar nicht erfasst. Im Rest der Welt ist hingegen aufgrund der Massenscreenings das Zeitfenster zwischen erstmaliger Diagnose und dem Auftreten schwerer Symptome oder dem Tod entsprechend größer. Folglich wird sich leider die Zahl der Toten außerhalb Hubeis noch deutlich erhöhen. Gerade gab es das erste Todesopfer auf den Philippinen.
Zwischen der Todesrate in Hubei und der Todesrate außerhalb Hubeis liegt der Faktor 16. Diesen muss man in zwei Faktoren splitten: Mit dem ersten ist die Fallzahl in Hubei für die nicht diagnostizierten milden bis mittelschweren Fälle zu korrigieren, mit dem zweiten die Todesrate außerhalb Hubeis für tödliche Verläufe, die bei den vergleichsweise früh Diagnostizierten noch auftreten werden. Teilt man symmetrisch in zwei Faktoren, betragen beide jeweils vier: 4 * 4 = 16. Dann wäre die Fallzahl in Hubei entsprechend von ca. 9 000 Menschen auf ca. 36 000 Menschen zu erhöhen, entsprechend einer Todesrate von 0,8 Prozent. Außerhalb Hubeis beträgt die Todesrate ebenfalls 0,8 Prozent, weil einige der als infiziert Diagnostizierten leider noch sterben werden.
Nach der genannten Korrektur zeigt sich: 2019-nCoV ist deutlich gefährlicher als die Grippe, mit der es gerne verglichen wird. Denn die Todesrate ist höher als bei der Grippe. Und die genannten geschätzten echten 36 000 Infektionen in Hubei sind mit dem bekannten Beginn (am 1. Dezember 2019 kam der erste Patient ins Krankenhaus) und der bisher angenommenen Infektionsrate von "2 bis 3" unvereinbar.
Natürlich kann man den genannten Faktor 16 auch anders aufteilen: Dann steigt aber entweder die Todesrate noch höher oder aber die Zahl der unentdeckten Infektionen in Hubei und damit auch die Ansteckungsrate. Grund zur Entwarnung gibt es also nicht.
Infektionsketten durchbrechen
Derzeit ist noch nicht erkennbar, dass es gelungen wäre, durch Hygienemaßnahmen die Neuinfektionsrate auf unter 1 zu drücken, wie es nötig wäre, um die Krankheit einzudämmen. Selbst, wenn bis Ende Februar die Zahl der neuen Fälle konstant bleibt und entsprechend "nur" 3 000 Infizierte pro Tag hinzukommen, wird es bis dahin fast 100 000 bekannte Fälle geben.
Wuhan und weitere besonders betroffene Städte sind aus gutem Grund abgeriegelt. Zudem hat China alle touristischen Gruppenreisen ins Ausland untersagt. Individualreisen sind noch möglich, werden aber auch schwieriger, da beispielsweise viele europäische Airlines wegen des gestiegenen Risikos China nicht mehr anfliegen.
Kongress mit 100 000 Teilnehmern sicher?
All die genannten Zahlen und Fakten beobachten sicher auch die Organisatoren des Mobile World Congress, der Ende des Monats in Barcelona stattfinden soll. Wie in den Vorjahren werden viele Delegierte aus China erwartet und auch viele Delegierte von Firmen, die wie Webasto eine enge Zusammenarbeit mit China pflegen. Entsprechend hoch ist das Risiko, dass Personen, die noch nicht von Ihrer Corona-Infektion wissen, zum Kongress reisen. Gibt es bis Kongressbeginn beispielsweise 20 000 bekannte und (natürlich geschätzt!) 40 000 unbekannte Coronavirus-Infektionen in Ostasien, und reisen 50 000 Delegierte aus diesem Gebiet an, liegt der Erwartungswert, dass sich unter den Delegierten eine unidentifizierte Infektion befindet, etwa bei 1. Diese eine Person könnte - siehe Webasto - leicht ein halbes Dutzend anderer Teilnehmer anstecken, die anschließend aber - anders als Webasto - sich nur mit einem sehr, sehr aufwendigen Massentest an allen Kongressteilnehmern gefunden werden könnte.
Es kommt daher auf die Entwicklung der Zahl der Infektionen und Todesfälle in den kommenden ein bis zwei Wochen an. Sollten die Zahlen weiter exponentiell wachsen und schon in wenigen Tagen die Grenze von 20 000 Infektionen außerhalb Chinas überschritten werden, wäre seuchenmedizinisch die Absage des Kongresses die einzige vertretbare Alternative. Gelingt es hingegen in den kommenden Tagen, den Anstieg abzubremsen, wird man den Kongress Ende des Monats stattfinden lassen können, wenn auch unter stark gesteigerten Hygienestandards. Mögliche Maßnahmen sind das Tragen von Mundschutz (vor allem, damit unbekannt infizierte Personen das Virus gar nicht erst in der Luft verteilen), regelmäßige Händedesinfektion, Installation von IR-Kameras, um Patienten mit Fieber zu erkennen.
Hoffnung macht eine Meldung aus Thailand: Mit einem wahren Cocktail von antiviralen Medikamenten, nämlich dem gegen Grippe wirksamen Oseltamivir, und den gegen HIV/AIDS wirksamen Lopinavir und Ritonavir, konnte eine Frau binnen 48 Stunden geheilt werden. Sollte sich dieser Medikamentencocktail auch bei anderen Patienten als derart wirksam bestätigen, würde er zwar nicht bei der Eindämmung der Pandemie helfen, aber das Sterberisiko drastisch reduzieren.