App-ifizierung

Editorial: Sprache? Fehlanzeige!

Der bisher wichtigste Mobilfunkdienst - Sprache - wird zur Nebensache. Das öffnet ein gewaltiges Marktpotenzial für App-Entwickler.
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Hat der Sprachdienst im Mobilfunk dank Messaging-Apps ausgedient Hat der Sprachdienst im Mobilfunk dank Messaging-Apps ausgedient?
Bild: nenetus - Fotolia.com
Groß geworden ist die Mobil­funk­branche mit den hoch­opti­mierten Diensten "Sprache" und "SMS": In der Beschreibung des GSM-Standards ist bei­spiels­weise für Sprach­frames bis hinunter auf die Ebene einzelner Bits festgelegt, wie mit diesen umge­gangen wird: Bestimmte Bits aus dem kompri­mierten Sprach­paket, die besonders starken Einfluss auf die korrekte Wieder­gabe der Sprache haben, werden bei­spiels­weise im Sprach­frame mehrfach über­tragen. Andere, für die genaue Wiedergabe nicht ganz so wichtige Bits werden als Gruppe abgesichert. Und die Gruppe der am wenigsten wichtigen Bits wird sogar gar nicht abgesichert.

Seitdem hat sich die Technologie massiv weiterentwickelt. Während GSM/2G einen Datenstrom von ca. einem Dutzend Kilobit pro Sekunde überträgt, schafft 3.5G schon ein Dutzend Megabit pro Sekunde. 5G könnte sogar ein Dutzend Gigabit pro Sekunde erreichen. 1 Million mal mehr als im ursprünglichen GSM-Standard. Doch die ursprünglichen Dienste "Sprache" und "SMS" haben sich seitdem kaum weiterentwickelt. Im Gegenteil, es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass der Sprachdienst sogar degradiert.

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So ist der native Sprachdienst Voice over LTE bis heute nur in einer kleinen Zahl von LTE-Netzen freigeschaltet, und auch nur ein Teil der Endgeräte, beispielsweise die Spitzenmodelle von Samsung aber nicht die von Apple, haben den nötigen Chip an Bord. Zwar ist denkbar, VoLTE-Sprachdienste komplett in Software zu implementieren, wie es bei VoIP-Apps à la Skype bereits heute der Fall ist. Doch auch, wenn Apple demnächst VoLTE-Software per iOS-Update nachliefert, dürfte diese im Vergleich zu einer Hardware-Implementation zu höherem Stromverbrauch, ergo kürzerer Akkulaufzeit, und zu einer etwas schlechteren Verbindungsqualität führen, beispielsweise in Form zusätzlicher Latenzzeiten.

So lange VoLTE nicht im Netz und im Endgerät implementiert ist, müssen die Handys zudem im Falle eines Anrufs sofort zurück nach 3G oder 2G. Dieser Netzwechsel kostet etwas Zeit, so dass Anrufe zu 4G-Smartphones derzeit langsamer aufgebaut werden als zu 2G-Handys und 3G-Smartphones. Zudem besteht beim Netzwechsel immer die Gefahr, dass man ganz aus dem Netz fällt, beispielsweise, weil die aktuelle Zelle in 2G/3G schon voll ist, oder man sich an einem Ort mit schlechter Funkversorgung aufhält, zu dem nur ein Teil der Signalisierungspakete unbeschädigt durchdringt.

Auch Nutzer tragen das ihre dazu bei, dass der Sprachdienst immer mehr als Nebensache wahrgenommen wird. War es früher beispielsweise eine Selbstverständlichkeit, dass man auf seiner Mailbox eine persönliche Begrüßung hinterlässt, oder die Mailbox zumindest deaktiviert, wenn man sie nicht nutzt, lässt heute die Mehrzahl der User die Mailbox einfach unkonfiguriert.

Kurznachrichten machen inzwischen andere

Der SMS-Dienst hat sich zwar nicht verschlechtert, er ist aber in der Zeit stehen geblieben. Der halbherzige Nachfolger MMS und der noch halbherzigere Nachfolger Joyn ändern daran nichts. Inzwischen setzen andere Unternehmen die Messaging-Standards. Dass Facebook einen zweistelligen Milliarden-Betrag für WhatsApp bezahlt und die anschließende hitzige Debatte um sichere Messenger zeigen, dass die Netzbetreiber das Thema "Messaging" bereits verloren haben. Es ist müßig, zu diskutieren, was zuerst war: User, die sich nicht mehr für Sprach- und Datendienste der Netzbetreiber interessieren, oder Marketing und Investitionstätigkeit der Top-Netzbetreiber, die sich seit Jahren praktisch nur noch um Daten, Smartphones und Apps drehen. Denn letztendlich bedingt sich am Ende beides gegenseitig. Zwar werben die Discounter noch intensiv mit Sprachqualität und Minutenpreisen, doch trägt das ebenfalls zum öffentlichen Bild von Sprache und SMS als "billigen" Diensten bei.

Ohne einer massiven Umschichtung von Marketing- und Netzausbau-Geldern haben die Netzbetreiber keine Chance, dieser Abwärtsspirale zu entkommen. Doch auch der diesjährige Mobile World Congress zeigt keine Tendenz eines entsprechenden Paradigmenwandels in der Branche. Die Folge: Messaging ist schon eine App, und Telefonie wird auch bald zu einer werden. Das sind gute Nachrichten für die Pioniere in diesem Bereich, wie Skype oder Viber.

Chance oder Risiko?

Früher sah ich die "App-ifizierung" der Basisdienste vor allem als Gefahr, weil sie zusätzliche Abhängigkeiten schafft. Der Nutzer braucht nicht nur den Netzzugang, er braucht auch den Diensteanbieter. Das bedeutet mehr Verträge, und somit im Zweifelsfall mehr hinterhältige AGB-Klauseln, mehr Kosten und weniger Datenschutz. Und wenn am Zellenrand die Ressourcen knapp und jedes ungestört empfangene Bit kostbar sind, dann wird ein als App implementierter Sprach- oder Nachrichtendienst, der seine Daten in einer Nutzdatenschicht über einer Anwendungsschicht über einer IP-Schicht über einer Signalisierungsschicht überträgt, viel früher abreißen als ein nativ implementierter Dienst, bei dem Nutzdaten- und Signalisierungsschicht nebeneinander und beide direkt auf dem jeweiligen Träger liegen.

Andererseits bringt die App-ifizierung den Nutzern auch Vorteile, sonst wäre sie nicht passiert. Skype ermöglicht Video-Anrufe zwischen Handy und PC. WhatsApp kostet einen Bruchteil von SMS. Threema bietet eine Verschlüsselung, bei der wohl auch die offiziellen staatlichen Abhörschnittstellen außen vor sind. Und je mehr Apps auf den Markt kommen, desto länger wird diese Liste der Vorteile werden. Die App-ifizierung von Sprache und SMS ist also bereits in vollem Gange.

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