Editorial: 600 Millionen Euro Verlust!?
2020 hatten die großen Filmproduzenten alle ein Riesenproblem: Die Kinosäle waren im Frühjahr wegen Covid fast weltweit geschlossen worden. Und bei den ab dem Sommer erfolgenden Wiedereröffnungen hatten Kinosäle so ziemlich die geringste Priorität. Einzelhandel für Güter des nichttäglichen Bedarfs und Gastronomie wurden viel früher wieder geöffnet. Dort arbeiten viel mehr Menschen. Und es sitzen (wenige Großgaststätten ausgenommen) auch viel weniger Menschen in einem Raum als im Kino. Im Einzelhandel kann man sich zudem mit Masken vor gegenseitigen Infektionen schützen. In der Gastronomie helfen Masken immerhin, die Übertragung von Mitarbeitern zu Kunden zu reduzieren, sodass nicht ein infizierter Kellner hunderte Gäste anstecken kann, wie es in der ersten Welle in Ischgl geschah.
So gut wie alle Filmstudios sagten daraufhin ihre großen
Neuerscheinungen ab. 2020 war also "Keine Zeit zu sterben", obwohl
dieser Bond bereits 2019 fertig gedreht und intensiv beworben worden
war. Auch die Disney-/Marvel-Produktion "Black Widow" wurde von Mai 2020
dreimal verschoben, bis sie am 29. Juni 2021 endlich in die
Kinos kam. Weil zu diesem Zeitpunkt noch viele Kinos geschlossen waren
und sich dort, wo sie bereits wieder geöffnet hatten, weniger Zuschauer
als normal in die Kinos trauten, startete Disney den Film zeitgleich
auch auf seinem Streaming-Dienst Disney+. Allerdings mussten die Nutzer
zusätzlich zum Monatsabo von Disney+ noch "Premier Access" für ca.
30 US-$ bzw. Euro zusätzlich kaufen.
Streaming-Dienst Disney+
Bild: Disney
Am Ende brachte der Film dem Disney-Konzern ob dieses Vorstoßes viel
Ärger ein. Kinobetreiber beklagten sich, dass der gleichzeitige
Streaming-Start ihnen in eh schon schwierigen Zeiten Zuschauer raubte.
Die Hauptdarstellerin Scarlett Johansson verlangte öffentlichkeitswirksam
einen Honorarnachschlag, weil ihr im Vertrag ein exklusiver Kinostart
zugesichert worden war und sie an den Streaming-Einnahmen im Gegensatz
zu den Kinoeinnahmen nicht beteiligt war. Und ca. 20 Millionen
Internet-User fanden die 30 Euro für den Premier Access zu teuer
und streamten den Film illegal.
600 Millionen Verlust!?
Analysten sprechen nun von 600 Millionen Verlust, weil die genannten 20 Millionen User bei legalem Download diese 600 Millionen hätten zahlen müssen. Nur: Hätte es keine Möglichkeit zum illegalen Download gegeben, wäre nur ein Teil der Schwarzseher zum legalen kostenpflichtigen Streaming gewechselt. Ein anderer Teil hätte einfach darauf verzichtet, den Film zu sehen.
Auf der anderen Seite hatte der Avengers-Film "Endgame" 2019 satte 2,8 Milliarden US-$ an den Kinokassen eingespielt. Dazu im Vergleich sind die 0,38 Milliarden US-$, die "Black Widow" erlöst hat, wirklich mager. Auch die 0,06 Milliarden, die Disney+ mit dem Verkauf von Premier Access zusätzlich verdient hat, reißen es nicht raus. Nach Abzug der Provisionen für die Kinos dürfte angesichts der (geschätzten) Produktionskosten von 0,2 Milliarden US-$ für den Disney-Konzern unterm Strich ein Minus stehen. Der in der Geschichtserzählung direkte Vorgänger-Film zu Black Widow, nämlich The First Avenger: Civil War, erzielte 2016 ein Einspielergebnis von 1,15 Milliarden US-$. Black Widow ist also wirklich ein starker Ausreißer nach unten, und es ist vorstellbar, dass Disney bei normalem Kinostart oder auch bei parallelem Kino- und Streaming-Start ohne die illegalen Streams deutlich mehr verdient hätte.
Doch unterscheiden sich die drei genannten Avenger-Filme nicht nur in den Einspielergebnissen und der Form des Kinostarts, sondern auch im Rating der Zuschauer. Endgame kommt bei IMDB auf sehr gute 8,4 von 10 Sternen. Civil War immerhin noch auf gute 7,8. Black Widow hingegen nur auf 6,7. Rating-Punkte und Einspielergebnis korrelieren also exponentiell miteinander: Pro 0,5 Rating-Punkten weniger halbiert sich das Einspielergebnis in etwa.
Man kann davon ausgehen, dass das schlechte Rating zum Teil auch daher kommt, dass die Zuschauer verärgert über die ungewöhnlichen Startmodalitäten waren und daher den Film besonders kritisch sahen. Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass ein getrennter Start dem Film besser getan hätte: Erst ganz normal im Kino, dann einige Wochen später für einen moderaten Aufpreis als Stream.
Billiger als Kino!?
Zwar sind die 30 Euro, die Disney+ als Aufpreis für den Premier Access verlangt hat, eher etwas günstiger als zwei Kinotickets plus Popcorn und Getränke. Nur: Wenn man ins Kino geht, hat man auch die riesige Leinwand und das halbwegs frisch zubereitete Popcorn. Zu Hause ist es dann meist doch nur der Fernseher und das abgestandene Popcorn aus dem Supermarkt, für das man zudem noch extra bezahlen muss. Mit anderen Worten: Den meisten Nutzern dürfte es nicht 30 Euro wert sein, den Film gleichzeitig zum Kinostart streamen zu können.
Bei den Familienfilmen des Disney-Konzerns könnte ich mir hingegen eher vorstellen, dass 30 Euro Aufpreis akzeptiert werden. Zum einen kosten Tickets und Popcorn für zwei Erwachsene und zwei Kinder deutlich mehr als für zwei Erwachsene allein. Zum anderen haben die Kinder auch in den kommenden Tagen noch was vom Stream, wenn sie ihn sich beispielsweise mit Freunden nochmal anschauen können. Aber damit gilt auch hier: Der verlorene Umsatz an der Kinokasse durch den parallelen Premium-Streaming-Start dürfte eher höher sein als die zusätzlichen Einnahmen durch ebendieses Premium-Streaming.