Netzfrage

Ab wann ist ein Netz ein Netz?

Ab sofort haben sich die Telefonfirmen mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Denn ein Verbindungsnetzbetreiber ist nur, wer ein Netz betreibt.
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Ende April 1998 passierte es wohl zum ersten Mal, daß die Telekom gemeinsam mit einem der Konkurrenz-Unternehmen, nämlich Arcor, bei der Regulierungsbehörde in Bonn vorstellig wurde und beide einen Antrag stellten. Denn bisher stand die Telekom immer auf der einen und die Konkurrenten geschlossen auf der anderen Seite.

Aber diesmal klagten Arcor und Deutsche Telekom gemeinsam. Der Stein des Anstosses ist, daß auch solche Firmen als Verbindungsnetzbetreiber auftreten, die nur ein Mininetz betreiben. Wenn beispielsweise Mobilcom im Januar ein Ferngespräch von München nach Stuttgart abgewickelt hat, dann lief dieses über Hamburg, da Mobilcom zu diesem Zeitpunkt seine einzige Vermittlung im hohen Norden betrieb. Sowohl die Leitungen München -> Hamburg als auch Hamburg -> Stuttgart sind ganz normale Wählleitungen der Telekom. Es wird beklagt, daß dieses Verhalten assymmetrische Lasten erzeugt, da der Mobilcom-Switch wie ein Magnet die Gespräche auf sich zieht.

Der Regulierer hat schnell reagiert. Es hieß, man stimme mit Arcor und der Deutschen Telekom überein, daß ein Anbieter nur dann als Verbindungsnetzbetreiber firmieren kann, wenn er ein eigenes Netz in Deutschland betreibt und ausreichend viele Interconnetion-Punkte mit der Deutschen Telekom hat. Nur für diese Firmen sei die Telekom verpflichtet, Telefongespräche zum günstigen Interconnection-Tarif weiterzuleiten. Bei anderen Telefonfirmen, die letztendlich nur Wiederverkäufer der Telekom-Leistung seien, sei hingegen die Telekom lediglich zu einem gewissen Großkundenrabatt verpflichtet. Der Regulierer werde allerdings Verträge wie den zwischen der Telekom und Mobilkom nicht beanstanden. Aber es stehe der Deutschen Telekom frei, in Zukunft die Verträge anders zu gestalten.

Bei manchen Telefonfirmen mag das Zittern losbrechen. Bei der Telekom ist man erstmal sauer. Denn dieselbe Regulierungsbehörde, die bestimmten Firmen jetzt den Status des "Verbindungsnetzbetreibers" abspricht, hat letztes Jahr denselben Firmen fleißig Verbindungsnetzbetreiberkennzahlen zugewiesen - das sind die Ziffernkombinationen wie 01019 und 01030, die aus dem Call-by-Call-Verfahren bekannt sind.

Die Regulierungsbehörde ist also umgefallen. Hat man letztes Jahr allen möglichen Konkurrenten sofort den Status "Telefonfirma" zugebilligt, will man diesen Status jetzt nur noch ausreichend großen Konkurrenten gewähren. Die Frage aller Fragen lautet: "Ab wann ist ein Netz wirklich ein Netz?" Diese wird mit Sicherheit in den nächsten Jahren die Gerichte beschäftigen. Denn verschiedene Telefonfirmen treten mit verschiedenen Voraussetzungen an. Das Netz von Esprit Telecom (die inzwischen von GTS übernommen wurde) zählt unter anderem die Städte Düsseldorf, Brüssel, Paris, Mailand, Barcelona, Madrid, Rotterdam, Amsterdam, London, Glasgow und Dublin auf. Zweifellos ein respektables Netz, das Esprit in Westeuropa aufgebaut hat. In Deutschland selber kann man aber dennoch nicht von einem Netz reden, es gibt anscheinend nur einen Austauschpunkt mit der Telekom. Hat Esprit aber trotzdem das Recht, gegenüber der Deutschen Telekom als Verbindungsnetzbetreiber aufzutreten? Zählt für die Beurteilung das innerdeutsche oder das innereuropäische Netz von Esprit? Streit über solche und ähnliche Fragen ist vorprogrammiert. Es kann durchaus passieren, daß deutsche Gerichte erst ein Urteil in die eine Richtung fällen und die europäische Wettbewerbskommission dann den Gesetzgeber zwingt, die Bedingungen rückwirkend zu ändern, woraufhin die Gerichte ihre Urteile annulieren müssen.

Übrigens hat Esprit schnell reagiert und die Thyssen-Tocher Plusnet gekauft, die bereits diverse Großkunden in Deutschland angeschlossen hat.

Eine andere Firma ist Tele2. Deren Netz hat zur Zeit sechs Knoten in Deutschland. Die Zentrale ist in Düsseldorf und es gibt Einwahlknoten in Hamburg, Berlin, Frankfurt, Stuttgart und München. Von den Einwahlknoten laufen zur Zeit alle Telefonate per Mietleitung zur Zentrale. Ein Telefonat mit Tele2 von Leipzig nach Dresden läuft also zunächst von Leipzig nach Berlin (über das Netz der Telekom), dann von Berlin nach Düsseldorf (Leitung von Tele 2), zurück nach Berlin (Leitung von Tele 2), dann von Berlin nach Leipzig (Netz der Telekom).

An dem Netz von Tele 2 fällt auf, daß man kein Problem mit Umwegen hat. Anscheinend war es billiger, die Leitung von Berlin nach Düsseldorf etwas "dicker" zu gestalten, als in Berlin einen zusätzlichen Switch aufzustellen, der die Telefonate herausfiltert, die gleich in Berlin bleiben können. Nachdem man vom Erfolg der Tarifsenkung vom 1. April überrascht worden ist, plant man den weiteren Ausbau des Netzes. Die bisherigen Einwahlknoten werden durch Switches ersetzt, und um jeden dieser Switches wird ein neuer Ring von Einwahlknoten gelegt werden. Ein solcher Einwahlpunkt wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in Leipzig stehen. Von dort werden die Telefonate aber vorbehaltlos nach Berlin geschickt werden. Erst in Berlin wird ein Switch stehen, der bei Bedarf das Telefonat gleich wieder nach Leipzig zurückschickt - z.B., weil es nach Halle geht.

Im Internet-Bereich ist es genauso: Die meisten der großen Provider in Deutschland betreiben einen Austauschpunkt untereinander, der in Frankfurt steht. Eine Datenverbindung von Berlin (Nacamar) nach Berlin (UUNET) läuft also über Frankfurt. Bevor dieser sogenannte DE-CIX eingerichtet wurde, hatten viele Provider sogar gar keinen Interconnect in Deutschland. In diesem Fall liefen die Daten den Umweg über die USA! Trotz dieser scheinbaren Ineffizienz hat sich das Internet in Deutschland gut entwickelt.

Der Umweg über die USA wird auch bei internationalen Telefonaten oft gewählt, nämlich beim Callback-Verfahren. Die kürzeste Leitung ist also nicht unbedingt die billigste. Oder, anders ausgedrückt: Heutige Glasfasern sind so leistungsfähig, daß man es sich ruhig erlauben kann, diese nur teilweise auszunutzen. Ein typisches Kabel hat 144 Fasern, die je 155 Mbit/s in eine Richtung tragen können. Damit können über 125 000 Telefongespräche übertragen werden. (Wer diese Zahl nachrechnet, sollte berücksichtigen, daß die 155 Mbit nicht perfekt ausgelastet werden und man je zwei Fasern für einen Kanal braucht, da Hin- und Rückrichtung getrennt sind). Indem man die Transceiver austauscht, kann man die Kapazität jeder Faser auf 633 Mbit/s vervierfachen. Das entspricht einer halben Million Telefonkanälen auf einem Kabel. Damit ist aber noch lange nicht das Ende erreicht. Forscher haben es vor kurzem zum ersten Mal geschafft, die Datenrate von 1 Terabit/s über ein 500 km langes Glasfaserkabel zu schicken. Wenn man zwei dieser Superfasern kombiniert (für Hin- und Rückrichtung) kann man darüber über 15 Millionen Telefongespräche übertragen!

Die genannten beeindruckenden Kapazitäten stehen seit einigen Jahren standardmäßig zur Verfügung. Das Verlegen der Kabel ist zwar teuer, aber wenn die Kabel liegen, kostet deren Betrieb nicht mehr viel. Z.B. kann man eine 500 km lange 155-Mbit-Standleitung bei der Deutschen Telekom für ca. DM 160 000,- pro Monat mieten (Stand August 1998, inklusive MwSt). Wenn die 155-Mbit-Leitung in einer größeren Stadt (Augsburg, Berlin, Bielefeld, Braunschweig usw.) beginnt und endet, sinkt der Preis auf ca. DM 134 000,- im Monat. Jeder einzelne der 1890 Telefonkanäle kostet also ca. DM 70,- pro Monat. Nehmen wir nun weiter an, es gelingt nur, das Kabel während der achtstündigen Geschäftszeit zu 25% auszulasten. Dann wird jeder Kanal im Schnitt 2 Stunden am Werktag benutzt, bzw. 40 Stunden im Monat. Die einzelne Stunde kostet dann lediglich DM 1,77, die Minute kommt auf 2,9 Pfennig. Dieser Preis läßt sich weiter drücken, indem man die Kabel abends und am Wochenende für Privatgespräche nutzt oder die Auslastung verbessert. Man sollte auch nicht vergessen, daß neben der Deutschen Telekom auch o.tel.o und Mannesmann Arcor eigene Glasfasernetze aufgebaut haben, die man ebenfalls zu akzeptablen Konditionen anmieten kann.

Anhand dieser Rechnung wird aber klar, daß der Interconnection-Preis für Ferngespräche, den die Regulierungsbehörde auf 5,14 Pfennig + MwSt = 5,96 Pfennig pro Minute festgelegt hat, vergleichsweise fair ist. Dieser günstige Tarif regt natürlich die Tätigkeit kleiner "Maulwürfe" an, die sich ausrechnen, daß man an einem Switch einfach zwei Ferngespräche "zusammenstöpseln" und dadurch bundesweit Telefonate anbieten kann. Denn in diesem Fall werden maximal zweimal 5,96 Pfennig = 12 Pfennig an Interconnect-Gebühren fällig. Das ist deutlich günstiger, als die Ferntarife der Telekom für Privatkunden, die zur Zeit zwischen 20 und 56 Pfennig in der Minute (außer Nachttarif) liegen. Es existiert also ein breiter Spielraum, innerhalb dem sich die Konkurrenzfirma und deren Kunden den Preisvorteil teilen können. An obiger Rechnung erkennt man, daß an diesem Spielraum weniger die Regulierungsbehörde (Interconnection-Tarif zu günstig) als vielmehr die Deutschen Telekom schuld hat (Ferntarif für Endkunden zu hoch).

Man beachte, daß Tele2 am Wochenende bundesweit Ferngespräche für 10 Pfennig in der Minute anbietet. Das könnte Tele2 nicht tun, wenn es nur einen Austauschknoten gäbe, denn dann wären die an die Telekom zu zahlenden Interconnect-Gebühren bei den meisten Telefonaten höher als die Einnahmen von Tele2. Aber durch das Tele2-Netz der 6 Einwahlpunkte werden die Entfernungen, die die Gespräche im Netz der Deutschen Telekom AG zurücklegen, kürzer, so daß die Interconnect-Preise sinken. Zum Beispiel zahlt Tele2 für ein Gespräch von Berlin nach München nur noch zweimal den Interconnect-City-Tarif an die Telekom - das sind 4,6 Pfennig pro Minute (inklusive Mehrwertsteuer).

Mit anderen Worten: Tele2 ist deswegen so günstig, weil man ein eigenes Netz hat, nicht obwohl. Wenn der Regulierer der Sache einfach freien Lauf läßt, werden sich diejenigen Gesellschaften über den Preis durchsetzen, die ein dichtes Netz betreiben. Es muß aber jeder Gesellschaft vorbehalten bleiben, mit einem einfachen Netz anzufangen. Denn wenn man vom Start weg ein dichtes Netz verlangt, dann wird in Deutschland nur ein exklusiver Club der wohlhabenden Telefonfirmen antreten, nämlich die, die sich die hohen Anfangsinvestitionen überhaupt leisten können. Das ist die Situation, die wir aus dem Mobilfunkbereich nur zu gut kennen. Mannesmann Mobilfunk (D2) und Deutsche Telekom (D1) existieren seit geraumer Zeit friedlich nebeneinander. Keiner hackt dem anderen ein Auge aus. Ein wirklicher Preiskampf findet nicht statt. Zumindest Mannesmann verdient mit dem D2-Netz glänzend - besser, als in allen seinen anderen Geschäftssparten.

Wenn wir Konkurrenz und günstige Preise wollen, müssen wir alle Konkurrenten zulassen.