Editorial zu #goebombe: Brauchen wir einen Twitter-Führerschein?
Zu Beginn gestatten Sie folgende Bemerkung: Am vergangenen Dienstag detonierte in Göttingen kurz vor der Entschärfung durch Spezialisten der Polizei eine Zehn-Zentner-Fliegerbombe aus dem zweiten Weltkrieg. Dabei verloren drei Personen aus dem Team des Kampfmittelräumdienstes Niedersachsen ihr Leben. Der Autor verfolgte die Evakuierung der Bevölkerung zusammen mit Freunden nicht nur über das Internet und Twitter, sondern auch quasi live vor Ort bzw. zuhause, etwa einen Kilometer von der Explosionsstelle entfernt.Gut eine Stunde vor dem als Entschärfungszeitpunkt bekanntgegebenen Termin knallte es kurz nach halb zehn Uhr abends plötzlich laut und dumpf, die folgende Druckwelle ließ die Fensterscheiben etwa fünf Sekunden lang klirren. Aus Richtung der Fundstelle der Bombe stieg eine dunkle Rauchsäule empor. Jeder war überrascht, schnell fragten wir uns: "War das nun *die* Bombe oder ist etwas anderes explodiert?" Der Knall war auch noch Kilometer entfernt in vielen Teilen von Göttingen zu hören.
Klassische Nachrichtenmedien, egal welcher Medienform und Finanzierung, wurden von der Detonation genauso auf dem falschen Fuß erwischt wie Bürger, Rettungskräfte und Polizei. Schon eine knappe Woche zuvor gab es den ersten Fund einer identischen Bombe, die problemlos entschärft werden konnte. Das Radio blieb am vergangenen Dienstag zunächst stumm, nur die "ordentlich" für die Entschärfung geplanten Sperrungen rund um die Fundstelle wurden vorgelesen. Ebenso lieferten auch TV-Kanäle und Nachrichten-Webseiten in der ersten knappen Stunde nach der Explosion keine Informationen - aufgrund der Umstände und Planungen zur Entschärfung der Bombe eigentlich gut verständlich.
Twitter punktet bei unvorhersehbaren Ereignissen mit Echtzeit-Veröffentlichungen
Über Twitter unter dem Hashtag #goebombe liefen schon den ganzen Abend
im Minutentakt kurze Mitteilungen und Meinungen aus der Stadt zusammen.
Anfangs war da viel Spaß und
persönliche Verabredungen dabei, dies schwenkte unmittelbar nach 21.37 Uhr in
Betroffenheit und Wissbegierigkeit um. Viele Nutzer wollten wissen, was
da geknallt hat, ob es Verletzte oder Beschädigungen etc. gab. Binnen Minuten
gab es zehn, zwanzig, in der Spitze auch dreißig Tweets.
Zwischen die vielen Fragen mischten sich dann auch erste Antworten, zu
Beginn noch häufig im Konjunktiv geschrieben und mit deutlichen Relativierungen versehen.
Für die lokal vor Ort Betroffenen war dies auch nur verständlich, rund
ein Kilometer um die Fund- und dann leider Explosionsstelle waren alle
Gebäude geräumt worden. Bis auf wenigste Ausnahmen hatte keiner Sicht-Kontakt
zur Unglücksstelle, belastbare Informationen konnte es de facto kaum geben.
Die wenigen Informationen wurden immer und immer wieder verteilt, retweetet.
Tweets von daswaldi: Die erste Falschmeldung war zum Zeitpunkt des Screenshots schon gelöscht. Mittlerweile ist der gesamte Account gelöscht worden.
Screenshot: teltarif.de
Binnen ganz weniger Minuten mischten sich aber leider auch unverantwortliche Nutzer darunter, die aus Unerfahrenheit, Geltungsdrang oder sonstigen Gründen "vergaßen", ihre wenig belastbaren Informationen in den Tweets als Gerüchte und wage Informationen darzustellen. Da wurde aus einem "könnte" ein "war" und schon war der Tweet "laut bekanntem bei feuerwehr war es ne gasleitung, NICHT die #goebombe" veröffentlicht. Der gleiche Nutzer hat Minuten später gar komplette Unwahrheiten getwittert ("mit bekannter in weender landstraße telefoniert, 2 Häuser weiter is ne Fassade runtergekommen..."). In der oben beschriebenen Situation wurden diese beiden Tweets massenhaft weiterverbreitet. In diesen Retweets wurde zum Teil die Information weiter verkürzt, fast immer wurden etwaige Relativierungen dabei noch weiter zusammengestrichen. Da bringt auch eine (halbe) "Entschuldigung" des Nutzers in seinem Blog [Link entfernt] später wenig.
Entschleunigung der Medien und Gesellschaft
Schade: Nicht nur private Nutzer, sondern auch Journalisten und auch
die Eisenbahngesellschaft Metronom haben sich eventuell aus Zeitdruck zur
Verbreitung von Falschinformationen hinreißen lassen. Gerade die oben
zitierten Tweets wurden von mehreren Medien aller Coleur nahezu ungeprüft
vollständig oder gekürzt in Artikeln und Beiträgen zur Bombenexplosion
in Göttingen verwendet. Häufig wurden dabei dann "lokale Quellen" oder ein "örtliches
Medium" zitiert, nur wenige Journalisten und Medien verwiesen direkt auf
Twitter und das Hashtag #goebombe. Metronom meldete am Abend ein
"Unfall" im Bahnhof Göttingen und dessen Sperrung.
Später wurde klarer, dass es sich dabei um
die zur Bombenentschärfung ohnehin geplante Evakuierung des Bahnhofes
gehandelt hat.
Bleibt auch bei Twitter leider nicht aus: Geschmacklosigkeiten durch falsche Verkettung von Wort und Bild
Screenshot: teltarif.de
Gerade in solchen Sonder- oder Extremsituationen, wie ich sie am Dienstagabend in Göttingen erlebt habe, müssen es aber korrekte Informationen sein. Man darf eben nicht mit Gerüchten und Halbwahrheiten oder gar Lügen weiteres Chaos stiften. Die falschen Tweets zwangen etwa die Stadtverwaltung zu einer Stellungnahme, dass eben gerade keine Gasleitung geplatzt sei, die es bis in die Heute-Nachrichten "geschafft" hat - Zeit und Energie, die alle Beteiligten am Dienstag sicherlich besser in anderen Bereichen aufgebracht hätten! Dieser Anspruch "Qualität vor Geschwindigkeit" gilt hier gleichermaßen für Medien als auch deren Nutzer.
"Belastbare Informationen sind König!" Dies gilt umso mehr
für alle professionellen Medienschaffenden, entsprechende Quellen zu hinterfragen
und im Zweifel einmal mehr zu recherchieren als vorschnell einen Beitrag über den
Ticker oder den Fernsehkanal auszustrahlen. Dieser Satz gilt aber ganz genauso
auch für alle Privatleute,
die sich Mediendiensten wie dem Internet, E-Mail, Chat oder Social-Web-Plattformen wie
Twitter und Facebook bedienen, um Freunde, Bekannte oder die breite Öffentlichkeit
zu informieren. Dieser häufig auch als Bürger-Journalismus bezeichnete Bereich
sollte im Bereich Recherche und Korrektheit der Informationen nicht mehr
schlampen dürfen als ordentliche Medien.
(Zu) hoher Wissensdurst?
Screenshot: teltarif.de
Etwas Kritik müssen sich aber sicherlich auch die Konsumenten der Tweets und Informationen im Internet gefallen lassen: Hätten sie nicht zum Beispiel mit immer wieder erfolgten Seitenhieben auf die angeblich so langsamen und schläfrigen alten Medien, die Twitter-Gemeinde zum schnellen Posten neuer Tweets angestachelt, so wäre mancher Tweet vielleicht mehr überdacht oder hinterfragt worden. Auch stand zu Beginn sicherlich die Rettung und Bergung der Verletzten und Toten und die Sicherung der Umgebung vor weiteren Schäden im Vordergrund und nicht die sekundengenaue Information der vor Ort und im WWW zahlreichen Schaulustigen. In diesem Zusammenhang nochmals mein Dank an alle Rettungskräfte für Ihren Einsatz!
Twitter-Führerschein? - Nein, aber Rückbesinnung auf Werte der "old economy"!
Zurück zur eingangs im Titel gestellten Frage, ob wir für alle einen Twitter-Führerschein benötigen - zugegeben sehr provokant formuliert. Nein, natürlich brauchen wir diese weitere Regulierung nicht. Was wir aber ganz sicher brauchen, ist das Bewusstsein jedes Einzelnen, sich der Verbreitungswirkung und -macht der neuen Medien bewusst zu sein. Wer dies einmal erkannt hat, wird schon zu seinem Selbstschutz über diese Medien keine leichtfertigen Halb-Wahrheiten posten, sondern darüber mit Freunden, Bekannten und der Öffentlichkeit in einer Art und Weise sprechen, wie er dies auch im herkömmlichen Leben tut. Werte und Regeln der "guten alten old economy" gelten eben auch in der neuen und manchmal verdammt schnellen und harten neuen Medienwelt weiter!