unschön

Editorial: Call-by-Call im Ortsnetz und Gummi-Paragraphen

Oder: Wie Auslegungsfragen den Markt behindern
Von

Stellen Sie sich vor, die Bundesregierung macht Gesetze, und keiner hält sich dran: So oder so ähnlich ist derzeit die Situation beim Ortsnetz. Zwar tritt die zugehörige Änderung [Link entfernt] des TKG heute in Kraft. Doch die Regulierungsbehörde hat die Einführung zunächst bis Ende Februar 2003 ausgesetzt, nachdem klar geworden war, dass die regulatorische und technische Umsetzung bis zum ursprünglich geplanten Termin keinesfalls klappt.

Schaut man näher hin, erkennt man, dass der derzeitige gesetzeslose Zustand vom Gesetzgeber so gewollt wurde, oder zumindest grob fahrlässig so herbeigeführt wurde. Der "Gesetzgeber" sind in diesem Fall übrigens alle Parteien gemeinsam (CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne), die sich im Vermittlungsausschuss darauf einigten, die beiden folgenden Sätze im TKG zu ergänzen: "Im Rahmen der Ausgestaltung der zur Erfüllung dieser Verpflichtung erforderlichen Netzzusammenschaltung ist bei Entscheidungen nach dem dritten, vierten und sechsten Teil dieses Gesetzes zu gewährleisten, dass Anreize zu effizienten Investitionen in Infrastruktureinrichtungen, die langfristig einen stärkeren Wettbewerb sichern, nicht entfallen und dass eine effiziente Nutzung des vorhandenen Netzes durch ortsnahe Zuführung erfolgt. Insbesondere ist hierbei sicherzustellen, dass der vom Nutzer ausgewählte Netzbetreiber angemessen an den Kosten des dem Nutzer bereitgestellten Teilnehmeranschlusses beteiligt wird."

Mit welch heißer Nadel diese TKG-Änderung im Vermittlungsausschuss gestrickt wurde, erkennt man schon an der schlechten Qualität des Textes. Wie man den Verlautbarungen der Politiker rund um die Einigung im Vermittlungsausschuss entnehmen konnte, bestand die Absicht, die Konkurrenten zu höheren Investionen in Infrastruktur zu drängen. Doch ist im Gesetzestext von "Anreizen zu effizienten Investitionen" die Rede. Von zwei Investitionen, die beide dasselbe Ziel (z.B. einen bestimmten Umsatz oder Gewinn) erreichen, ist aber nunmal diejenige effizienter, die geringer ausfällt. Gemeint waren foglich wohl "wirkungsvolle Anreize für Investitionen" und nicht "Anreize für effiziente Investitionen".

Immerhin: Anreize für Investionen gibt es bereits in der derzeitigen Interconnect-Regelung. So sind die IC-Entgelte im Fall der besonders ineffizienten Nutzung des Netzes der Deutschen Telekom fast dreimal so hoch wie im günstigsten Fall. Und da das Gesetz nur fordert, dass Anreize nicht "entfallen", ist diesbezüglich ein Festhalten an den bestehenden Regelungen sicher vertretbar.

Mehr Konfliktstoff enthält da schon die Regelung bezüglich der "ortsnahen Zuführung". Denn die Frage "wie nah ist nah genug" wird im Gesetz nicht beantwortet. Die Telekom wird die Frage nach Nähe sicherlich aus der Perspektive eines Fußgängers ("ein paar Kilometer sind schon zuviel") beantwortet wissen wollen, mancher Konkurrent eher aus der Perspektive der Lufthansa ("von Berlin nach Frankfurt ist eine Kurzstrecke; von Berlin nach Hannover ist so nah, dass wir das gar nicht erst anbieten"). Bedenkt man zudem, dass derzeit ein Dutzend Firmen ein 60-Sekunden-Ferngespräch billiger anbieten, als die Telekom ein 60-Sekunden-Ortsgespräch beim Standardtarif, wird klar, dass die "Entfernung" in der Telekommunikation irgendwie anders gemessen werden muss als in Metern und Kilometern.

Noch verwirrender ist der nächste Satz der Neuregelung. Denn die Kosten für die Bereitstellung des Telefonanschlusses sollten nicht über IC-Entgelte, sondern über die Grundgebühren abgedeckt werden. Der neue Satz gibt aber der Telekom nun eine Menge Spielraum zur Argumentation, dass die Anschlüsse eben nicht kostendeckend seien, um diese Kosten dann in vielfältiger Weise auf die Konkurrenten umzulegen, sei es über höhere Gebühren für Mietleitungen, sei es über höhere IC-Gebühren.

Schlimmer noch: Die neuen Regelungen im Gesetz betreffen nicht nur Ortsgespräche, sondern auch Fern- und Auslandsgespräche. Die neuen Regelungen gelten nämlich allgemein für alle Call-by-Call- und Pre-Selection-Dienstleistungen. Auch sind "nicht marktbeherrschende" Anbieter von Telefonanschlüssen nicht mehr zum Call-by-Call verpflichtet. Hier gab es bisher zumindest die (theoretische) Möglichkeit, dass Verbindungsnetzbetreiber die Anschlussnetzbetreiber zur Zusammenschaltung zwingen.

Fazit: Bis wieder Klarheit und Rechtssicherheit herrscht, wird viel Zeit ins Land gehen. "Anfang März 2003", wie von der Regulierungsbehörde derzeit angepeilt, ist ein sehr optimistischer Termin.