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Lobbyisten über die Schulter geschaut


20.08.2020 17:40 - Gestartet von WJaeger
einmal geändert am 20.08.2020 19:56
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Torsten J. Gerpott,

ich möchte gerne eine diskutable, praxisbezogene Gegenposition zu Ihrem Gastbeitrag beisteuern

Ihre Darstellungen erscheinen mir ein wenig zu vorgefärbt. Für Branchenkenner klingt es schon eigenartig, wenn sich der Magenta Riese über „erschwerte Marktzugänge“ oder angebliche Wettbewerbsverzerrungen beschwert. Verrückt.

Da fragt man sich wozu die zahlreichen Lobbyisten der Telekom in Berlin und bei den Verbänden unterwegs sind. Von regionalen Wettbewerbern wurden Personen mit identischem Tätigkeitsprofil und ähnlich vollen Koffern nie gesichtet.

Die Aufhebung des Nebenkostenprivilegs hätte für die Wowi und für Mieter verheerende Folgen. Was Sie hier in dem Artikel so mal eben zum Besten geben ist, dass sich die Produktkosten durchaus verdoppeln können und die Netze über Modernisierungsumlagen von 8% pro Jahr - als Mieterhöhung - umgesetzt werden können. Selbst wenn man daran noch einen Haken machen wollen würde, scheitert dieses Modell alleine am Ausbau in der Praxis.

Recht haben Sie damit, dass die Mieter nicht die Möglichkeit haben, diese Art des linearen Fernsehempfangs und die damit verbundenen Kosten abzuwählen. Das ist für Mehrparteien-Wohngebäude aber keine Besonderheit der TV-Versorgung. Bei der Installation von Aufzügen schafft der Vermieter die grundsätzliche Möglichkeit eines barrierefreien Erreichens von Wohnungen unabhängig davon ob ein einzelner Mieter lieber die Treppe nutzt oder nicht. Es geht um Standards.

So ist es ebenso wichtig sicher zu stellen, dass jeder Mieter in einem Objekt erst einmal grundsätzlich in die Lage versetzt wird, eine moderne Multimediaversorgung nutzen zu können. Ein individueller Teilausbau einer jeden einzelnen Wohnung ist nämlich schlicht weg bautechnisch nicht umzusetzen und auch wirtschaftlich nicht vertretbar. Zumal bei dem Wegfall jeder Anbieter je nach eigenem Gusto, Können und Verlangen individuell bauen und versorgen würde. Wer will das bautechnisch, verwaltungstechnisch und servicetechnisch managen?

Für die von Ihnen angeführten Produkte „Magenta-TV“, Streaming, Netflix, DVB-T etc. sind leistungsfähige Internetanbindungen bis in jeden Haushalt erforderlich.

Faktisch würde Ihr Vorschlag bedeuten, dass wir die Umlagefähigkeit gegen eine Internet-Anbindungspflicht tauschen würden erscheint mir aus Enduser-Sicht nicht wirklich erstrebenswert.

Stand heute verzichten mehr Haushalte auf einen Internet-Festnetzanschluss als auf lineares Fernsehen. Sollte hier vielleicht der Antrieb der Initiative zu suchen sein?

Zudem glänzen alle Anbieter mit proprietären Endgeräten und entsprechenden Zusatzkosten. Da lohnt es sich, mal den Bandbreitenbedarf eines 4 Personen-Haushaltes mit 3 Fernsehern zu berechnen, die dann parallel Content in 4K sehen wollen. Hier merkt der Kunde sehr schnell welche Kosten ihm da „auferlegt werden“. Gerade der Magenta Anbieter glänzt da mit Bündelprodukten und irreführenden Werbeversprechen. Weiter ist zu beachten, dass bei einem Internetausfall alle multimedialen „Vitalfunktionen“ ausfallen. Die Störung wird dann via Handy gemeldet, Internet ist nicht verfügbar und der Fernseher fällt auch in den Schlafmodus diskutieren Sie dieses Szenario doch bitte mal mit wohnungswirtschaftlichen Verwaltern. Vielleicht nach Corona wieder an einem Samstag mit Bundesliga der Ausfall der Tageschau reicht auch schon ;-)

Unser Leben in Europa verläuft im weltweiten Vergleich relativ ruhig, was z.B. Naturkatastrophen angeht, aber man sollte trotzdem beachten, dass gerade bei Erdbeben und Tsunamis im asiatischen Bereich nicht umsonst der linearen Informationsverteilung via SAT (CATV oder SAT) ein hoher Stellenwert zukommt. Angesichts moderner Möglichkeiten der Videobearbeitung hat Live-TV immer noch einen festen Platz in Deutschland aus gutem Grund.

Bzgl. der „wettbewerbsfeindlichen Marktzutrittshürden“ würde ich den Glasfaser-Netzüberbau der Telekom und die falschen Werbeversprechen gegenüber dem Umlagemonopol insbesondere volkswirtschaftlich betrachtet deutlich als Diskussionswürdig priorisieren. Ich empfehle hierzu den Dialog mit Stadtwerken, lokalen Versorgern, EVUs etc. aus den Branchenverbänden BREKO und BUGLAS hinsichtlich bedauerlicher Erfahrungswerte.

Die TV-Versorgung von Mehrparteienhäusern ist wie Sie richtig darstellen ein profitables Geschäft solange man nicht in neue Netze investieren muss. Alle Etablierten scheuen aktuell die Modernisierung der letzten Meile. Das ist aber nur die eine Wahrheit. Die zweite Wahrheit ist, dass es kaum entsprechendes Fachpersonal bzw. ebensolche Fachbetriebe gibt, die in der Lage sind Inhouse-Glasfasernetze zu bauen oder zu betreiben. Wie wollen Sie beim Wegfall der Umlagefähigkeit den Betrieb der Netze regeln? Jeder Anbieter ist für sein Kabel zuständig? Wie viele Verteilschränke wollen Sie in den Kellern aufhängen? Wer ist für den Brandschutz verantwortlich und welche Hotline ruft welche Wohnung für welchen Dienst an? Da wünschen wir gutes Gelingen!

Es ist völlig klar, dass Interessenverbände von Breitbandnetzbetreibern und der Wohnungswirtschaft nun massiv Front gegen das von der Bundesregierung ange-strebte Ende des Nebenkostenprivilegs machen und die Argumente sind auch mehr als begründet:

Absolut nachvollziehbar wäre eine Forderung bei bereits durchfinanzierten Infrastrukturen die Umlagefähigkeit zu entziehen und diese Netze als „offene Netze“ freizugeben die Servicefrage bliebe leider auch hier erhalten. In dem Zusammenhang könnte die Telekom durch den Verzicht auf Tal-Gebühren neue bundesweite Standards setzen ;-).

Bzgl. der tatsächlichen Glasfaser-Anbindungen bin ich absolut Ihrer Meinung. Es ist blamabel, dass Deutschland europäisches Schlusslicht in Sachen FTTH ist. Wo prüft die Politik heute die Umsetzung der Ausbauverpflichtung im Neubau? (5 Jahre würde ich schon als Verzögerungsspielraum definieren). Wo sind die entsprechenden Spezifikationen der Elektrobranche. Stand heute ist Glasfasertechnik nicht Bestandteil der Elektroausbildung. Das sind Handlungsfelder für gesetzliche Vorgaben. Mir sind keinerlei Strafzahlungen, Baustopps etc. wegen fehlender zukunftsfähiger Hausnetze bekannt.

Und wenn man Glasfasernetze benötigt sollte man diese auch so benennen und nicht von Giganetzen unter Einbeziehung von datentechnischen „Einbahnstraßen“ reden.

Ihre These: „Das Nebenkostenprivileg erhöht und beschleunigt auch Investitionen in den Ausbau von Glasfaser auf den letzten Kilometern nicht“ stimmt für die Netzebene 3 (Zuführung von Glasfaser an Quartiere/Gebäude). Das ist aber auch das angestammte Tätigkeitsfeld der Kabelbetreiber. In der NE4 und in Clustern sieht das gänzlich anders aus. Hier ist diese zwingende Voraussetzung, wenn man die von Ihnen lapidar angeführten 8% Mieterhöhung pro Jahr seinen Mietern nicht zumuten möchte oder in Ermangelung von Kaufkraft zumuten kann!

Ihre Ausführungen bzgl. der bereits von den Kablern in DOCSIS 3.1-Technik verschwendeten Gelder ist absolut richtig. Wurde das politisch zugelassen? Ja. Warum? Die Lobbyisten haben allerorts beachtenswerte Leistungen vollbracht nicht ganz im Sinne der Endkunden und der Volkswirtschaft aber unter dem Schutz der Bundesregierung.
Bzgl. der Ankündigungen der Telekom hinsichtlich des Breitbandausbaus müssen Sie den Fachleuten nachsehen, dass hier gewisse Restbedenken erhalten bleiben. Aufgrund der überalterten Kupferinfrastrukturen wäre die Telekom der einzige Profiteur, der von einer einheitlichen Kupferbasis startend auf Glasfaser migrieren könnte. Deshalb ist es aus dieser Sicht ein cleverer Zug die Aufhebung zu fordern. Zudem wären Sonderkündigungsrechte aller Endkunden zwangsläufig und ein gerne gesehener Aspekt für die Ausweitung des eigenen Geschäfts. Das ist clever aber eben auch sehr offensichtlich.

Dass die Wohnungswirtschaft dazu tendiert, Gestattungsverträge nur noch mit kürzeren Laufzeiten abzuschließen kann ich nicht bestätigen das gilt sicher für bereits bestehende, bereits refinanzierte Netze - nicht aber für neue Glasfasernetze. Abgeleitet hiervon geht Ihre Schlussfolgerung ins Leere und kann allenfalls als willkommene „Nebelkerze“ für IP-TV-Protagonisten dienen.

Ihre Ausführungen zur Entwicklung der Verbraucherpreise durch Einzelnutzerverträge haben mich zugegebener Massen anfänglich ein wenig überfordert.

Es ist schön, dass wir uns einig sind, dass i.d.R. Preiserhöhungen von 100% und mehr zu erwarten sind. Auch bei den Monatspreisen (Grundversorgung und Signalgebühren) sind wir uns einig. Eine Vielzahl von Endusern wird sich zu helfen wissen. Wir erleben das Come-back unzähliger privater Parabolantennen Die Wette halten wir. Klagewelle hin oder her

Der Preisnachlass in Sammelverträgen ist natürlich nicht den faktischen Abrechnungsaufwänden geschuldet. Er ist dem Entgegenkommen für die zusätzliche oftmals exklusiv geregelte Vermarktungsmöglichkeit von TV-Zusatzprodukten (Receiver-Mieten, Smartcards, Senderpakete und INTERNET UND TELEFONIE) geschuldet.
Zu den „sozialen Verwerfungen durch Wegfall der Umlagefähigkeit“ ist zu erwähnen, dass diese heute bereits gegeben halt nur bereits jahrelang etabliert und historisch gewachsen sind!
Die Mehrheit deutscher Einfamilienhaus-Besitzer käme nie auf die Idee Kabel-TV Gebühren zu bezahlen. Die private SAT-Anlage liefert alle Programme, in bester Qualität kostenlos für nahezu beliebig viele Endgeräte. Bei einem vorhandenen leistungsfähigen Internetanschluss wird HD+, SKY, DAZN, Netflix etc. nach Belieben und verfügbarem „Geldbeutel“ hinzugebucht. Das können Mieter in MFH nicht. Entweder lassen dies die laufenden (meist exklusiven) Versorgungsverträge oder die überalterten Hausnetze nicht zu.
Wenn wir natürlich alle durch den Wegfall der Umlagefähigkeit anfallenden Zusatzkosten als Steuerzahler über die Anhebung der Hartz4 Bezüge begleichen wollen, ist sozialen Verwerfungen vorgebeugt. Bliebe die Frage, wie man das abrechnungstechnisch überwachen sollen würde.
Das wäre ja dann pro PLZ und Etage und Anbieter unterschiedlich. Mehrgeräteempfang und Fremdsprachenversorgung, Receiver-Mieten etc. würden dieses Thema sicher nicht vereinfachen vielleicht eine Möglichkeit für ein neues „Bundesministerium zur Abrechnung von TV-Versorgung.“

Perspektiven
Bzgl. der „Perspektiven“ verwundert es mich, dass Sie hier „Gewinne aus Betriebskosten“ anführen. Die Definition von „Betriebskosten“ ist rechtlich eindeutig, ungeachtet aller am Markt zu beobachtender „Besonderheiten“. Bei den von Ihnen aufgeführten Praxis-Beispielen und deren Handlungsspielräumen bei der TV-Versorgung ist stets das Eigentumsrecht an der NE4 vorausgesetzt. Ohne Eigentum sind keine „Ausflüge“ in neue Vertragssysteme möglich. Nicht zuletzt darum gehen die ganz Großen der Wohnungswirtschaft mittlerweile dazu über, die Hausnetze selber zu modernisieren und diese dann an einen oder mehrere Anbieter zu vermieten („Homes passed“ oder „Homes connected“ Abrechnung). Der beste Weg um unabhängig und „frei“ die beste Versorgung und einheitliche Ausstattung seiner Bestände zukunftsorientiert abzusichern. Stern, Glasfaser, eigene Netze das ist die Basis für Open Access und Wettbewerb im Bestand.

Wir erörtern gerne mit jedem die Bedrohungen und Möglichkeiten rund um das Thema "Pro und Kontra Mietneben-kosten-Umlage-Privileg".

Bleiben Sie neugierig und gesund!