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Netflix, Disney+ & Co.: Ende des goldenen Serien-Zeitalters?

Mit Ausnahme des Pande­mie­jahres 2020 ist die Zahl der US-Serien in den letzten zwei Jahr­zehnten jedes Jahr gestiegen - auf fast 600 im Jahr 2022. Doch nun scheint die Seri­enblase tatsäch­lich zu platzen.
Von dpa /

Natür­lich sind das viel zu viele Serien, um alle zu schaffen - niemand kann das alles schauen: 2022 sind 599 neue und fort­gesetzte englisch­spra­chige Serien in den USA veröf­fent­licht worden. Im Jahr davor waren es 559, wie die jähr­liche Zählung der Fern­seh­for­scher von FX Rese­arch aus dem Hause Walt Disney ergab, die die Produk­tionen bei Strea­ming-, Kabel- und Rund­funk­anstalten der Verei­nigten Staaten erfasst.

FX-Chef John Land­graf sagte am Donnerstag laut Berichten von Bran­chen­blät­tern wie Variety und Holly­wood Reporter jedoch auch, die Produk­tion fiktiver Serien habe sich in der zweiten Jahres­hälfte 2022 enorm verlang­samt. Dies könne ein Zeichen dafür sein, dass der Höhe­punkt des Serien-Hypes erreicht sei, der Gipfel über­schritten. Kurz: Von nun an geht es bergab. "Das goldene Zeit­alter des Strea­mings verblasst plötz­lich", meinte die "New York Times" schon im Dezember.

"Peak TV": Die fetten Jahre des Fern­sehens

Bekannte Streaming-Dienste: Netflix, Amazon Prime Video, Disney+ und Apple TV+ Bekannte Streaming-Dienste: Netflix, Amazon Prime Video, Disney+ und Apple TV+
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In den USA ist seit Jahren von den fetten Jahren des Fern­sehens die Rede, was auch "Peak TV" genannt wird. Die Gesamt­zahl der fiktiven Dreh­buch­serien ("Original Scripted Series") hat sich laut FX Rese­arch seit 2012 mehr als verdop­pelt. Damals gab es 288 geskrip­tete Serien, davon nur 15 von Strea­ming­diensten, deren Boom dann ab 2013 mit dem Netflix-Hit "House of Cards" begann.

Mit "Peak TV" sind meist die letzten rund acht Jahre gemeint (mit je mehr als 400 Serien), auch wenn natür­lich schon vorher einige TV-Sender wegwei­sende Serien wie "Brea­king Bad" (AMC) oder "Game of Thrones" (HBO) ausstrahlten. Die letzten acht bis zehn Jahre waren von einer großen Zahl soge­nannter High-End-Serien geprägt, also hoch­wer­tigen, neuartig erzählten, global erfolg­rei­chen Produk­tionen, die die Unter­hal­tungs­kultur welt­weit prägten.

Tonan­gebend war bei alledem Netflix (nach eigenen Angaben "mit 223 Millionen zahlenden Mitglie­dern in über 190 Ländern der größte Strea­ming-Enter­tain­ment-Dienst welt­weit"). Seit dem Aufkommen von Disney+, Apple TV+ und weiteren Anbie­tern reden US-Medi­enex­perten gern martia­lisch von einem "Strea­ming-Krieg", der derzeit tobe.

Was nicht erfolg­reich genug ist, wird abge­setzt

In dieser Schlacht sorgte dieser Tage zum Beispiel das unver­mit­telte Ende von "1899" für Aufsehen. Die neue Netflix-Serie der "Dark"-Macher Baran bo Odar und Jantje Friese aus Deutsch­land war eigent­lich auf Fort­set­zung ange­legt. Nun aber werden bei der Serie über ein rätsel­haftes Immi­gran­ten­schiff viele Fragen offen bleiben - nach nur einer Staffel (statt geplanten drei Staf­feln). Für Millionen Fans, die fast sieben Stunden Lebens­zeit für die ersten acht Folgen inves­tierten, ist das eine herbe Enttäu­schung.

Doch Netflix präsen­tiert eine neue Härte: Was nicht erfolg­reich genug ist, wird abge­setzt. Was genau Netflix aber als "Erfolg" sieht, ist bei dem spär­lich kommu­nizie­renden Strea­ming­dienst unklar. Klar ist nur, dass der Konzern wohl intern eine Menge Daten über die Nutzung seiner Inhalte erhebt - etwa, wie viele Menschen eine Serie komplett anschauen oder wo sie aussteigen.

Bis 2022 schien für Netflix vor allem das Wachstum der Abo-Zahlen wichtig zu sein. Jetzt wird mehr auf Renta­bilität geachtet. Um Geld zu verdienen, wird auch gegen die Mehr­fach­nut­zung von Kunden­konten durch das Teilen von Pass­wör­tern vorge­gangen oder ein Abo-Modell mit Werbung einge­führt, obwohl es jahre­lang gerade der Unter­schied zum klas­sischen Fern­sehen war, werbe­frei zu sein.

Deut­liche Zurück­hal­tung nach den Boom-Jahren

Beim unter anderem in Potsdam-Babels­berg gedrehten "1899", der bisher teuersten deut­schen Seri­enpro­duk­tion über­haupt, waren wohl auch die Abruf-Erwar­tungen bei Netflix enorm hoch wegen der hohen Kosten für Compu­ter­technik und Sets - sie blieben offen­sicht­lich uner­füllt.

Der Dreh­buch-Professor Timo Gößler von der Film­uni­ver­sität Babels­berg sagt, nach den Boom-Jahren sei jetzt eine deut­liche Zurück­hal­tung zu spüren, vor allem bei finan­ziell aufwen­digen Projekten oder sehr gewagten Ideen. "Wirk­lich über­raschend kommt das nicht - es war allen klar, dass das nicht ewig so weiter­geht."

Die span­nende Frage sei jetzt, was die inner­halb weniger Jahre enorm gewan­delte TV-Indus­trie daraus mache. "Die Branche muss jetzt alles dafür tun, den Weg der Viel­falt an Serien, Genres, Figuren, ambi­tio­nierten Ansätzen und span­nenden neuen Stimmen und Perspek­tiven weiter zu beschreiten, der erst durch den Boom entstand."

Es gehe um ein neues Bewusst­sein für Qualität im Erzählen, sagt Spezia­list Gößler ("Der German Room - Der US-Writers'-Room in der deut­schen Seri­enent­wick­lung"). "Es mag naiv sein, aber meine Hoff­nung ist, dass sich bei dem Weniger, was jetzt herge­stellt werden wird, Qualität durch­setzt." Er sehe da auch eine Chance gerade für öffent­lich-recht­liche Anbieter, sagt Gößler. Deren finan­zielle Situa­tion sei - noch - deut­lich unab­hän­giger von der wirt­schaft­lichen Lage des globalen Marktes als bei den privat­wirt­schaft­lichen Playern.

Über­pro­duk­tion lasse Unauf­find­bar­keit entstehen

Das Trend- und Mode-Magazin WWD orakelte schon übers Jahr 2023: "Dieses Jahr könnte das Ende der Netflix-isie­rung dessen markieren, was wir früher Fern­sehen nannten." Die Wall Street stehe nicht mehr im Bann eines poten­ziellen Strea­ming-Gold­rauschs, Infla­tion und Rezes­sion zögen auf, die Medi­enin­dus­trie werde damit leben müssen.

Schlimm ist das laut "WWD" nicht wirk­lich, denn es habe einen irra­tio­nalen Über­schwang bei den Inhalte-Anbie­tern gegeben, da sie mit Abon­nen­ten­gel­dern über­flutet gewesen seien. Der digi­tale Schlund sei mit viel Zeug gefüt­tert worden. "Aufwen­dige Entwick­lungs­ver­träge regneten auf zuver­läs­sige Erfolgs­macher (Shonda Rhimes, Ryan Murphy) nieder, aber auch auf Menschen, die noch nie ein Entwick­lungs­treffen von innen gesehen hatten (die Obamas, Harry und Meghan)."

Die Los Angeles Times erin­nert zudem daran, dass die Über­pro­duk­tion der letzten Jahre auch eine gewisse "Unauf­find­bar­keit" habe entstehen lassen: "Viel von dem, was produ­ziert wird, geht im gren­zen­losen Raum der sich ständig drehenden Karus­sells der Strea­ming­dienste verloren."

In einer weiteren News geht es um die Preis­erhö­hung beim Sport-Strea­ming-Dienst DAZN: Hier gibt es noch die "alten" Abos.

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