Einblick

Warum Netzbetreiber ihre Technik transformieren müssen

Im Gespräch mit Dr. Mariam Kaynia (o2): Die Digi­tali­sie­rung unseres Alltags führt zu einem grund­legenden Wandel im Nutzungs­ver­halten und bei den Anfor­derungen von Mobil­funk­kunden.
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Dr. Mariam Kaynia, Director of Architecture, Strategy and Analytics, o2 Telefónica Dr. Mariam Kaynia, Director of Architecture, Strategy and Analytics, o2 Telefónica
Foto: Telefónica (o2) / bernhardhuber.com
"Digital, perso­nali­siert und immer „online“", diese Schlag­worte liest man überall. In der Tat: Die Digi­tali­sie­rung unseres Alltags führt zu einem grund­legenden Wandel im Nutzungs­ver­halten und bei den Anfor­derungen von Mobil­funk­kunden.

Wir haben uns mit Dr. Mariam Kaynia, "Vice Presi­dent and Director of Archi­tec­ture, Stra­tegy and Analy­tics" bei Telefónica Deutsch­land (o2) unter­halten. Sie berichtet direkt an den Vorstand und ist verant­wort­lich für die Archi­tektur- und Stra­tegie­defi­nition des Tech­nolo­gie­bereichs, die Daten­ana­lyse, die Bereit­stel­lung von Tech­nolo­gie­werk­zeugen und Betriebs­system (OSS) Anwen­dungen, das Projekt­manage­ment für die Bereit­stel­lung und das Trans­for­mati­ons­manage­ment, wie die offi­zielle Stel­len­beschrei­bung lautet. Sie ist aber nicht nur "Chef", sondern leitet auch das o2-interne Programm zur digi­talen Trans­for­mation des Unter­neh­mens ("Radical Archi­tec­ture and IT Trans­for­mation") sowie das Programm "Auto­nomous Networks" im Bereich o2-Technik.

Ihr Lebens­lauf ist span­nend: Bevor sie zu Telefónica o2 kam, war sie bei der Unter­neh­mens­bera­tung McKinsey als Asso­ciate Partner tätig, wo sie auf inter­natio­naler Ebene mit Tele­kom­muni­kations- und High-Tech-Unter­nehmen arbei­tete. Darüber hinaus hatte sie als Lehr­beauf­tragte gear­beitet, war Gutach­terin für die Euro­päi­sche Kommis­sion und hatte verschie­dene Vorstands­posi­tionen inne. Mariam Kaynia hat einen Doktor­titel und zwei Master Abschlüsse in Elek­tro­technik und hat in Norwegen studiert. Doch irgend­wann war ihr die ganze Theorie genug, sie wollte hinaus in die Praxis, wie sie uns im Gespräch verriet.

Opti­male perso­nali­sierte Ange­bote

"Die Kunden erwarten perso­nali­sierte Ange­bote, die optimal auf ihre spezi­fischen Bedürf­nisse zuge­schnitten sind. Sie wollen ihre Tarife und ihre Nutzung möglichst eigen­ständig über digi­tale Kanäle verwalten. Und sie legen ein noch größeres Augen­merk darauf, welche Erfah­rungen sie mit Produkten und Kontakt­punkten der Unter­nehmen machen. Zudem erwarten sie schnel­lere Reak­tions­zeiten und bessere digi­tale Lösungen von ihren Anbie­tern", eine Aufga­ben­stel­lung, die sie mit ihren Kollegen bei anderen Netz­betrei­bern teilt. Dr. Mariam Kaynia, Director of Architecture, Strategy and Analytics, o2 Telefónica Dr. Mariam Kaynia, Director of Architecture, Strategy and Analytics, o2 Telefónica
Foto: Telefónica (o2) / bernhardhuber.com

Neue Technik - neue Ange­bote

Mit neuen Tech­nolo­gien kommen immer auch neue Dienst­leis­tungen oder Anwen­dungen (englisch "Services") auf den Markt. "Jeder neue Mobil­funk­stan­dard von 2G bis 5G brachte neue Möglich­keiten mit sich." Heute sind wir bei 5G: Hier dreht sich alles um verbes­serte und "stärker indi­vidua­lisierte Kunden­erleb­nisse" – von der Erschlie­ßung neuer digi­taler Welten mittels AR (Augmented Reality)/VR (Virtual Reality) und mobilem Gaming bis hin zur inten­siveren Nutzung der Cloud im Alltag.

Problem: Kunden möchten nicht mehr bezahlen

Analog zu den Mitbe­wer­bern steht auch Telefónica o2 vor dem Grund­pro­blem des Marktes: Die Preise dürfen nicht steigen, sondern sollten eher sinken. Während die Unter­nehmen immer wieder und immer stärker in neue Tech­nolo­gien und bessere Infra­struk­turen inves­tieren, bleiben die Pro-Kopf-Einnahmen in der Tele­kom­muni­kati­ons­branche weit­gehend stabil.

Beispiels­weise in Deutsch­land: Der durch­schnitt­liche monat­liche Erlös pro Kunde (ARPU) liegt in der Branche bei rund 10 Euro pro Monat. Das stellt Tele­kom­muni­kati­ons­anbieter vor eine schwie­rige Aufgabe. Wie kann man Kosten senken, ohne die Qualität zu verschlech­tern? Gibt es viel­leicht Funk­tionen oder Ange­bote, wofür die Kunden frei­willig mehr bezahlen? Kann man im Gegenzug auch güns­tigere Ange­bote schaffen?

5G erfor­dert grund­legende Trans­for­mation der Netz- und IT-Archi­tek­turen

Es ist nicht damit getan, pausenlos neue Technik aufzu­bauen, einzu­richten, zu verbes­sern oder zu erwei­tern. Denn neben der Imple­men­tie­rung neuer Tech­nolo­gien stehen die Mobil­funk­betreiber noch vor einer ganz anderen Heraus­for­derung: Die tradi­tio­nelle Art und Weise, wie Tele­kom­muni­kati­ons­anbieter ihre Netz- und IT-Infra­struk­turen aufbauen und betreiben, stößt im 5G-Zeit­alter schnell an ihre Grenzen. "Die Netz­betreiber werden immer komple­xere Netz- und IT-Archi­tek­turen verwalten müssen, um die Viel­falt der Tech­nolo­gien und Anwen­dungen abzu­decken."

Notwen­dig­keit zur Trans­for­mation

Das schafft eine drin­gende Notwen­dig­keit zur "Trans­for­mation" (auf Deutsch Verwand­lung), die man im klas­sischen "Change Manage­ment" eine „Burning Plat­form“ nennt. Sie formu­liert es so: "Tele­kom­muni­kati­ons­anbieter brau­chen perma­nent neue, effi­zien­tere und flexi­blere Infra­struk­turen, wenn sie in Zukunft erfolg­reich Kunden gewinnen und gleich­zeitig immer anspruchs­vol­lere Netz- und IT-Struk­turen betreiben wollen. Sie müssen in der Lage sein, schnell zu agieren und noch effi­zienter neue Dienste und Anwen­dungen zu ermög­lichen. Der Weg dorthin orien­tiert sich an einigen wich­tigen Leit­planken."

Es muss schnell, einfach, digital und flexibel sein

Wer sich trans­for­mieren muss oder will, muss schnell sein: "Denn der Mobil­funk­markt wandelt sich rasant. Da ist keine Zeit für lang­fris­tige Trans­for­mati­ons­pro­jekte, die typi­scher­weise zehn Jahre dauern."

"Es ist so: Lässt man sich für die Trans­for­mation seiner Archi­tektur zu viel Zeit, haben sich Markt­bedin­gungen und Kunden­anfor­derungen am Ende schon wieder signi­fikant verän­dert. Das kann entweder die laufende Trans­for­mation gefährden oder direkt eine neue Trans­for­mation erfor­der­lich machen, sobald die erste abge­schlossen ist."

Kaynia betont, dass es mit Blick auf die Verän­derungen im Markt mehr als Sinn macht, Trans­for­mati­ons­pro­jekte möglichst inner­halb weniger Jahre umzu­setzen. Bei o2 Telefónica heißt das Programm RAITT (Radical Archi­tec­ture & IT Trans­for­mation). "Künftig betreiben wir zwei zentrale IT-Stacks – für unsere Privat­kunden im Massen­markt, sowie für sämt­liche Busi­ness-Lösungen. Damit schaffen wir eine schlan­kere, effi­zien­tere und moder­nere IT-Archi­tektur. Kunden werden dadurch von besseren und schnel­leren digi­talen Prozessen profi­tieren. Neue Produkt- und Technik-Inno­vationen lassen sich schneller inte­grieren und in den Markt bringen."

Und es muss "einfach" sein, denn: "Schlanke Archi­tek­turen erleich­tern das Leben – und den Ausbau: Tele­kom­muni­kati­ons­anbieter müssen sich von ihrer alten Technik – im Fach­jargon Legacy Network & IT genannt – trennen, um ihre Archi­tek­turen radikal zu verein­fachen und sich auf die effi­zien­testen Tech­nolo­gien zu konzen­trieren. Betrieb und Wartung alter Infra­struk­turen erschweren es den Mobil­funk­anbie­tern massiv, schnell agieren und trans­for­mieren zu können."

Ein konkretes Beispiel: Abschal­tung von 3G

"Das Ende von 3G war und ist ein opti­males Beispiel dafür", erin­nert sich Kaynia. "Alle deut­schen Betreiber haben ihre 3G-Netze abge­schaltet, um die Frequenzen für leis­tungs­fähi­gere Tech­nolo­gien zu nutzen und damit das Kunden­erlebnis zu verbes­sern. Gleich­zeitig müssen wir als Betreiber weniger Systeme und Ressourcen für alte Technik vorhalten."

Alles ist heute digital: "Von Digi­tali­sie­rungs­anbie­tern erwarten Kunden voll­ends digi­tali­sierte Prozesse, die vom Kauf einer SIM-Karte über die Rech­nungs­stel­lung bis hin zum Wechsel des Mobil­funk­anbie­ters reibungslos ablaufen müssen. Deshalb arbeiten wir in der Branche daran, die soge­nannte Customer Journey – also sämt­liche Kunden­inter­aktionen rund um die erbrachte Mobil­funk­leis­tung – zu digi­tali­sieren. Digi­tali­sie­rung ermög­licht zudem mehr Self-Services, die unseren Kunden die volle Kontrolle geben."

Cloud bietet mehr Flexi­bilität

Mancher Anwender zuckt beim Begriff "Cloud" zusammen. Wo in der Wolke sind meine Daten? Das lässt Kaynia nicht gelten: "Die Cloud bietet mehr Flexi­bilität und bessere Skalier­bar­keit. Schauen Sie: Die Daten­nut­zung in den Mobil­funk­netzen steigt expo­nen­tiell. Nehmen wir den Ericsson Mobi­lity Report. Die haben ausge­rechnet, dass sich der welt­weite mobile Daten­ver­kehr bis 2027 mehr als vervier­fachen wird. Und allein in unserem o2 Netz wächst der mobile Daten­ver­kehr jedes Jahr um mehr als 50 Prozent an – zuletzt auf 2,4 Milli­arden Giga­byte im Jahr 2021; über­legen Sie sich mal, was das in der Praxis bedeutet."

Im 5G-Zeit­alter werden neue Ange­bote und Netz­funk­tionen in immer kürzeren Abständen in die Netze und die dahin­ter­lie­gende Soft­ware­land­schaft einge­spielt. "Wir können nicht perma­nent zusätz­liche oder spezi­elle Server kaufen. Bis die instal­liert sind, sind sie schon veraltet oder zu klein. Das bedeutet viel zu hohe Kosten, ist zu wenig nach­haltig und vor allem zu langsam, wenn die Trans­for­mation gelingen soll."

Hier kommt die Cloud ins Spiel: "Wir bauen unsere Netze und IT zuneh­mend auf Cloud-Infra­struk­turen auf. Das bietet uns Netz­betrei­bern die drin­gend benö­tigte Flexi­bilität und eine bessere Skalier­bar­keit. Steigt die Kunden­zahl, können wir schnell Rechen- und Spei­cher­leis­tung nach­bestellen. Sinkt der Bedarf oder ändert sich, können wir flexibel reagieren. Neue Tech­nolo­gien lassen sich einfa­cher in der Cloud aufbauen; Updates lassen sich schneller einspielen." Die Bedenken kann sie nach­voll­ziehen: "Natür­lich muss der Aufbau in der Cloud gelernt sein." Für Netz­betreiber erfor­dert das einen mutigen Schritt zu grund­legenden Verän­derungen und eine gute part­ner­schaft­lichen Zusam­men­arbeit mit den führenden Cloud-Anbie­tern dieser Welt – etwa mit den soge­nannten Hypers­calern wie AWS (Amazon), Google Cloud oder Micro­soft Azure. Dazu kommen aller­höchste Anfor­derungen an Daten­sicher­heit und Daten­schutz.

Von Auto­mati­sie­rung bis Auto­nomie

Es geht mit einer einfa­chen Auto­mati­sie­rung und soll zur voll­stän­digen Auto­nomie führen: "In der 5G-Ära müssen Updates und neue Funk­tio­nali­täten in deut­lich kürzeren Zyklen imple­men­tiert werden. Über manu­elle Prozesse wird das für Mitar­beiter und Mitar­bei­terinnen immer schwie­riger zu bewäl­tigen sein."

Wer daheim einen PC betreut, weiß, wie oft nach Updates, neuen Soft­ware-Versionen geschaut, diese geprüft, einge­spielt und evtl. auftau­chende Fehler gesucht werden müssen. Bei einem Mobil­funk­anbieter ist das viel kompli­zierter. Also müssen die Tele­kom­muni­kati­ons­anbieter ihre Abläufe ("Prozesse") möglichst auto­mati­sieren. Dazu gibt es neue Ansätze, wie z.B. CI/CD („Conti­nuous Inte­gra­tion, Conti­nuous Deli­very“). Das unter­stützt die Auto­mati­sie­rung und Über­wachung in allen Phasen der Bereit­stel­lung von Technik. Bei o2 Telefónica wird das bereits für die Weiter­ent­wick­lung des Kern­netzes verwendet. Im nächsten logi­schen Schritt folgt die voll­stän­dige Auto­nomie der Netze.

Trans­for­mationen: Neue Arbeits­weisen, Kompe­tenzen und Part­ner­schaften

So ein selbst­orga­nisie­rendes Netz („self-orga­nizing network“), das o2 seit etwa 2017 für den schnel­leren Rollout (= Aufbau) verwendet, bindet neu aufge­baute Mobil­funk­stand­orte selbst­ständig ein - z.B. durch das Setzen der rich­tigen Para­meter. Da muss kein Tech­niker mehr raus­fahren oder an irgend­wel­chen Excel-Tabellen Einträge vornehmen.

Dieses selbst­orga­nisie­rende Netz ist jedoch erst der Anfang. Die nächsten Schritte umfassen u.a. die auto­mati­sche Konfi­gurie­rung ("Zero-Touch-Opera­tions"), die auto­nome Netz­bereit­stel­lung sowie die auto­mati­sierte Orches­trie­rung von Netz­funk­tionen. Diese Auto­nomie beschleu­nigt die Instal­lation ("Imple­men­tie­rung") neuer Funk­tio­nali­täten und Para­meter, was für die komplexe 5G-Umge­bung entschei­dend sein wird - und das Leben für Tele­kom­muni­kati­ons­anbieter und ihre Mitar­beiter einfa­cher machen soll.

Alles nur noch Technik?

"Ist alles nur noch raffi­nierte Technik?" - "Nein", antwortet Kaynia, "letzt­end­lich ist es mit der Technik alleine nicht getan. Eine Umge­stal­tung der Tech­nologie-Archi­tektur erfor­dert auch neue Fähig­keiten und Arbeits­weisen der Netz- und IT-Spezia­listen.“ Es gebe einen Bedarf an neuen tech­nischen Quali­fika­tionen, um mit der Cloud, 5G und anderen digi­talen Anwen­dungen zu arbeiten. Soge­nannte "agile Arbeits­methoden" sollen dabei helfen, dass sich die Teams optimal in den großen Trans­for­mati­ons­pro­jekten ihrer Unter­nehmen zurecht­finden können.

Mit dem "agilen" Ansatz lasse sich die Kompli­ziert­heit solcher Projekte besser orga­nisieren und schneller auf Heraus­for­derungen reagieren, indem die einzelnen Arbeits­schritte verklei­nert und verein­facht werden: "Damit errei­chen wir Schritt für Schritt die einzelnen Ziele."

Das bedeutet auch, dass bestimmte Leute "Ende-zu-Ende" verant­wort­lich sind: "Wir verwenden soge­nannte 'DevOps'-Teams, die sowohl die Entwick­lung (englisch: Deve­lop­ment; 'Dev') als auch den Betrieb (englisch: Opera­tions; 'Ops') der Systeme über­nehmen. Die werden in unserem Tech­nolo­gie­bereich immer wich­tiger."

Perma­nentes Lernen

Ein Tele­kom­muni­kati­ons­anbieter müsse dafür sorgen, dass seine Mitar­beiter alles notwen­dige Wissen ("Digi­tal­kom­petenzen") haben und sich andauern neue Fähig­keiten aneignen, um mit den neuen Tech­nolo­gien umgehen zu können.

Aber dabei werde auch klar, dass ein Unter­nehmen solche grund­legenden Verän­derungen gar nicht völlig allein hinbe­kommen könne. Wenn es um die Themen "Cloud", "Künst­liche Intel­ligenz" oder "System­pro­gram­mie­rung" geht, wird Hilfe und Wissen von erfah­renen Partner gebraucht: "Wir nennen das "Hyper-Kolla­bora­tion".

Im Laufe der Zeit entsteht so ein neues "Ökosystem" an Part­ner­schaften zwischen Tele­kom­muni­kati­ons­anbie­tern, Cloud-Betrei­bern, IT-Spezia­listen und Endge­räte­her­stel­lern. Wichtig sei, "am Ende den Kunden das beste Service- und Tech­nolo­gie­erlebnis bieten zu können".

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