Volkswagen: "Autonomes Fahren zuerst bei Fahrdiensten"
Christian Senger, Bereichsleiter autonomes Fahren bei Volkswagen Nutzfahrzeuge
Foto: Volkswagen AG
In ein vollständig selbstfahrendes Auto zu steigen wird auch in Deutschland schon bald keine Science-Fiction mehr sein. Zumindest, wenn es nach den Plänen von Volkswagen geht. Der Wolfsburger Automobilkonzern stellte kürzlich seine Studie "ID. BUZZ" vor. Dabei handelt es sich um ein elektrisches Taxi ohne Fahrer, das auf dem bekannten VW Bulli basiert. Damit es auch in Sachen Software und künstlicher Intelligenz weiter vorangeht, kooperiert Volkswagen bei "Argo AI" in einem Joint Venture mit Ford. Unter anderem darüber sprechen wir mit Christian Senger, Leiter Entwicklung autonomes Fahren bei Volkswagen Nutzfahrzeuge.
teltarif.de: Herr Senger, was ist aus Ihrer Sicht aktuell beim Thema vollautonomes Fahren in Europa noch die größte Hürde? Software, Hardware oder der Gesetzgeber?
Christian Senger: Wir gehen bei der Einführung des autonomen Fahrens mit großer Sorgfalt vor. Der "digitale Fahrer" muss die Komplexität einer Stadtfahrt souverän beherrschen und darf dabei auch nicht zögerlich fahren, um in den normalen Stadtverkehr zu passen. Europa ist zudem ein Markt mit vielen historischen Stadtkernen. Das bedeutet enge Gassen und dichter Verkehr mit Fußgängern, Fahrrädern, Autos und LKW. Das geht so: Kameras, Radar- und Lidar-Systeme erzeugen ein digitales 360 Grad Umfeldmodell mit enormen Datenmengen. Diese Informationen müssen im Auto schnell verarbeitet und direkt in Fahrentscheidungen umgesetzt werden.
Christian Senger, Bereichsleiter autonomes Fahren bei Volkswagen Nutzfahrzeuge
Foto: Volkswagen AG
In unserer Kooperation mit Ford und Argo entwickeln wir ein solches selbstfahrendes System, das Personen (Mobility as a Service) oder Güter (Transport as a Service) im urbanen Raum von A nach B bringt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen und technologischer Fortschritt müssen Hand in Hand gehen, um Rechtssicherheit, Verlässlichkeit und gesellschaftliche Akzeptanz für das automatisierte Fahren zu etablieren. Wir setzen uns dafür ein, dass international eine Angleichung der rechtlichen Kriterien erreicht wird, denn diese Technologie hat das Potenzial, die Sicherheit im Straßenverkehr deutlich zu steigern. Volkswagen Nutzfahrzeuge begrüßt in diesem Zusammenhang die Entscheidung des Bundeskabinetts für den neuen Gesetzesentwurf des Bundesverkehrsministeriums zum autonomen Fahren.
teltarif.de: Kürzlich haben Sie die Studie VW ID. BUZZ vorgestellt. Optisch erkennt man noch die Handschrift des VW Bulli, doch technisch hat er nichts mehr damit zu tun. Vielmehr ist es das Konzept eines vollautonomen Elektro-Großraumtaxis. Was war der Grundgedanke bei diesem Projekt?
Christian Senger: Das Serienmodell dazu wird erst im kommenden Jahr seine Weltpremiere haben. Die allermeisten ID. BUZZ werden, wie unsere anderen Modelle auch, zum Selbstfahren angeboten. Aber auf diesem Modell bauen auch unsere autonom fahrenden Autos auf. Es ist sozusagen ein vollelektrischer Bulli, der zunächst noch mit Sicherheitsfahrer und später ohne unterwegs sein wird.
Der VW ID. Buzz
Bild: Volkswagen Nutzfahrzeuge
teltarif.de: Deutschland hat über lange Zeit von seiner Ingenieurskunst und Innovationskraft beim Verbrennungsmotor profitiert. Insbesondere Oberklassefahrzeuge "Made in Germany" gelten bis heute weltweit als unübertroffenes Qualitätsprodukt und Exportschlager. Eine wichtige Frage ist allerdings, ob dies auch in Zukunft so bleibt. Die Befürchtung ist, dass wir in Deutschland in Zukunft nur noch Autos zusammenbauen, die den Antrieb und Batterien für Elektromobilität aus China und Software aus den USA enthalten. Teilen Sie diese Befürchtung?
Christian Senger: Nein, überhaupt nicht. Es besteht doch heute kein Auto nur aus solchen Teilen, die in einem einzigen Land gefertigt worden sind, ob in Deutschland oder anderswo. Auch der Volkswagen Konzern fertigt international und wir haben an unseren Standorten einheitliche Qualitätsstandards etabliert. Die Fertigung eines jeden Modells ist vor allem in der Weltregion angesiedelt, in der das Modell auch vermarktet wird. Dazu passt übrigens, dass der ID. BUZZ in Hannover gefertigt wird und Deutschland ein wichtiger Markt ist, gerade auch für das autonome Fahren. Diese selbstfahrenden Versionen werden aber nicht zum Kauf für Einzelkunden, sondern zur Nutzung bei Fahrdienstleistern angeboten. Per App können deren Kunden dann ihre Mitfahrt buchen, so wie Sie es auch von unserem MOIA-Angebot aus Hamburg oder Hannover kennen.
teltarif.de: Welche Rolle spielen bei Ihren Plänen amerikanische Tech-Konzerne wie Apple und Google? Letztere engagieren sich ja bereits mit Waymo stark im autonomen Fahren und auch Apple soll zumindest an einem eigenen Fahrzeug arbeiten.
Christian Senger: Volkswagen und Ford haben gemeinsam in das auf Softwareplattformen für autonomes Fahren spezialisierte Unternehmen Argo AI aus den USA investiert. Beide Unternehmen halten identische Anteile an Argo AI. Die Verbindung erlaubt es beiden Autoherstellern, unabhängig voneinander das Self-Driving-System (SDS) von Argo AI in eigene Modelle zu integrieren. Dieses SDS soll dann in Europa und USA gleichermaßen zum kommerziellen Einsatz gebracht werden.
teltarif.de: Ein Schlüssel, der zum Beispiel Tesla beim autonomen Fahren einen wichtigen Vorsprung bietet, ist der FSD-Chip (Full Service Driving) in Zusammenarbeit mit Samsung. Künstliche Intelligenz und Chipsätze sind das Herzstück der automobilen Zukunft. Kann man sich hier eine zu große Abhängigkeit von Asien erlauben?
Christian Senger: Es sind internationale Kooperationen, die diesen Fortschritt überhaupt erst möglich machen. Die Investitionen im Bereich autonomes Fahren sind beachtlich, sodass solche Formen der Zusammenarbeit zwischen IT-Unternehmen und Autoherstellern absolut sinnvoll sind.
teltarif.de: Zum Thema Sicherheit: In den Nachrichten tauchen immer wieder Meldungen von Unfällen mit Teslas Autopilot auf. Dabei handelt es sich ja noch nicht mal um vollautonome Fahrzeuge. Welchen Verbesserungsbedarf sehen Sie mit Blick auf Sicherheitsaspekte auch in Zusammenhang mit der Software und künstlicher Intelligenz?
Christian Senger: Wir nehmen zu Wettbewerbern keine Stellung, es ist aber wichtig, klar zwischen Fahrzeugen mit Fahrerassistenzsystemen und autonom fahrenden Fahrzeugen zu unterscheiden. Letztere sind doch heute noch gar nicht im Markt, eben weil die Entwicklung ja noch längst nicht abgeschlossen ist. Die Sicherheit hat jedenfalls oberste Priorität.
teltarif.de: Eine abschließende Frage: Werden wir das autonome Fahren im großen Maßstab in Deutschland zuerst im privaten Individualverkehr oder im gewerblichen Umfeld erleben und können Sie einschätzen, wann wir mit einem Einstieg für die jeweiligen Bereiche rechnen können?
Christian Senger: Das autonome Fahren auf öffentlichen Straßen wird nach unserer Einschätzung als Erstes bei Fahrdienst-Anwendungen ähnlich MOIA in Hamburg einsetzen. Auch sog. Hub-2-Hub Anwendungen bei schweren LKW wird es geben. Die Systemkosten sind anfangs noch hoch. Deshalb stehen Einsätze mit hohen Kilometerleistungen in einem definiertem Einsatzgebiet im Fokus. Die Kosten der Fahrzeuge rechnen sich für gewerbliche Einsätze (vor allem TCO), bevor auf lange Sicht autonome Systeme weitere Verbreitung finden werden. Daher ist im Konzern auch die Marke Volkswagen Nutzfahrzeuge verantwortlich für die Entwicklung erster Robo-Shuttles und Transporter. Leichte Nutzfahrzeuge sind der erste, logische Einsatzort autonomer Systeme.
teltarif.de: Herr Senger, vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person: Christian Senger
Christian Senger ist Leiter Entwicklung autonomes Fahren bei Volkswagen Nutzfahrzeuge. Der Diplom-Ingenieur für Maschinenbau startete seine Laufbahn 1997 bei BMW in München. Hier bekleidete er verschiedene leitende Funktionen. Ab 2012 wechselte Senger zur Continental Automotive GmbH nach Regensburg, wo er die Leitung des Bereichs Automotive Systems & Technology übernahm. Mit seinem Wechsel zur Marke Volkswagen 2016 folgte die Leitung der Baureihe eMobility, er baute diesen Bereich auf und trieb die Elektro-Offensive der Marke entscheidend voran. Ab März 2019 leitete Christian Senger als Mitglied im Vorstand der Marke Volkswagen Pkw das Ressort "Digital Car & Services". Im November 2020 übernahm er schließlich die Leitung Entwicklung autonomes Fahren, Mobility as a Service (MaaS) und Transport as a Service (TaaS) in der Marke Volkswagen Nutzfahrzeuge.