NRW-Lokalradio: DAB+ oder lieber Alexa?
Radio Kiepenkerl-Chefredakteur Andreas Kramer und Moderatorin Insa Löll
Foto: Radio Kiepenkerl
In allen Bundesländern gibt es öffentlich-rechtlichen Rundfunk und landesweite Privatsender. Eine große Ausnahme ist jedoch Nordrhein-Westfalen: Dort existiert seit den 1990er-Jahren ein besonderes Hörfunksystem, das sogenannte "Zwei-Säulen-Modell". Praktisch jeder Landkreis und jede kreisfreie Stadt verfügt dort über ein eigenes Lokalradio, welches von einer Veranstaltergemeinschaft und einer Betriebsgesellschaft getragen wird. Die Redaktionen produzieren zwischen vier und zwölf Stunden eigenes Programm vor Ort, das Rahmenprogramm wird von radioNRW in Oberhausen zugeliefert. In der Zentralredaktion entstehen ganze Sendestrecken, die Weltnachrichten oder auch die Planung der Musik-Playlisten für die Lokalsender. Die jahrelang erfolgreichen NRW-Lokalradios stehen jetzt aber nicht nur wegen Corona wirtschaftlich unter Druck. Es stellt sich die Frage, wie es beim Thema DAB+ weitergeht, denn eine lokale Verbreitung von Radiosendern war im Digitalradio ursprünglich nicht vorgesehen. Über diese und weitere Themen sprechen wir mit Programmchef Andreas Kramer von Radio Kiepenkerl, dem Lokalradio für den Kreis Coesfeld im Münsterland.
Radio Kiepenkerl-Chefredakteur Andreas Kramer und Moderatorin Insa Löll
Foto: Radio Kiepenkerl
teltarif.de: Herr Kramer, NRW ist im bundesweiten Vergleich ein ungewöhnlicher Radiomarkt. Es gibt keine landesweiten Privatsender, sondern Kreise und kreisfreie Städte haben ein eigenes Lokalradio, das gemeinsame Rahmenprogramm kommt von radioNRW in Oberhausen. Außerdem sind durch das Zwei-Säulen-Modell aus Veranstaltergemeinschaft und Betriebsgesellschaft redaktionelle Inhalte und wirtschaftlicher Betrieb getrennt. Hat sich dieses Modell in der alltäglichen Praxis bei Ihrem Sender bewährt?
Andreas Kramer: In unserem Sender gibt es grundsätzlich eine harmonische Zusammenarbeit zwischen Veranstaltergemeinschaft und Betriebsgesellschaft, auch wenn es systembedingt an der einen oder anderen Stelle mal etwas ruckelt. Eine pauschale Aussage dazu kann man jedoch nicht für alle 44 Lokalradios in Nordrhein-Westfalen treffen. Es gibt sicherlich auch Fälle, in denen es möglicherweise weniger gut läuft und beispielsweise die Betriebsgesellschaft in einer ökonomisch schwierigen Situation des Senders kein Geld mehr zuschießen will.
teltarif.de: Das NRW-Lokalradiosystem hat unbestrittene Vorteile. In keinem anderen Bundesland sind Hörfunkredaktionen so engmaschig und nah an der Bevölkerung, gerade auch im ländlichen Raum. Zudem schafft dieses System viele redaktionelle Arbeitsplätze. Kehrseite der Medaille ist die fehlende Programmvielfalt. Es hat sich in NRW ein Hörfunkduopol aus WDR und radioNRW bzw. dem Lokalsender vor Ort zementiert. In Bayern und Berlin sieht die Radiolandschaft hingegen ganz anders aus. Bräuchte der Hörfunkmarkt im einwohnerstärksten Bundesland nicht mehr Wettbewerb und Vielfalt?
Andreas Kramer: Diese Vielfalt existiert ja auch in NRW abseits von UKW auf anderen Verbreitungswegen wie DAB+ oder Webradio. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, ob Hörer überhaupt andere Angebote nutzen wollen. In den USA hatte man dies in den 1990er-Jahren mit Webradios getestet, letztendlich kamen die Hörer aber vor allem wegen lokalen und regionalen Nachrichten bzw. Verkehrsmeldungen zu "ihren" örtlichen Sendern zurück.
teltarif.de: Als das NRW-Lokalfunksystem 1990 mit Radio DU (heute Radio Duisburg) startete, war es für UKW konzipiert. Früher oder später wird die analoge Ausstrahlung aber für alle Radiosender enden. Wie funktioniert das Modell mit Blick auf DAB+? Schließlich ist hier eine lokale Ausstrahlung technisch nur schwierig zu realisieren.
Andreas Kramer: Es wäre laut Media Broadcast technisch durchaus möglich, jedes NRW-Lokalradio via DAB+ in "lokalen Kacheln" mit anderen Sendern aus Nachbarkreisen zu verbreiten. In unserem Falle wäre das im Münsterland zum Beispiel ein gemeinsamer Kanal mit Antenne Münster, Radio WMW (Borken) und Radio RST (Steinfurt). Zwischen den Sendern gäbe es auf DAB+ ja auch kaum einen journalistischen Wettbewerb, da die Hörer den Sender wählen, welcher für sie die passenden lokalen Informationen liefert. Wer beispielsweise im Kreis Coesfeld lebt, hat vermutlich kein Interesse an Lokalnachrichten oder Verkehrshinweisen aus dem Kreis Steinfurt und würde dann wohl Radio Kiepenkerl statt Radio RST auf DAB+ einschalten. Überschneidungen könnte es aber sicherlich auf dem Werbemarkt geben.
teltarif.de: Radio Kiepenkerl gehört wirtschaftlich über die WWR (Westfälische Werbegesellschaft für privaten Rundfunk) zur Ippen-Mediengruppe mit Sitz in München. Das ist eines der größten Medienhäuser in Deutschland, unter anderem mit Beteiligungen an der Frankfurter Rundschau oder dem Münchner Merkur. Kürzlich ist Ippen Digital sogar beim amerikanischen Portal BuzzFeed eingestiegen. Welche Synergien zieht Radio Kiepenkerl als Lokalradio aus dieser überregionalen Verbindung?
Andreas Kramer: In der Tat ist die Ippen-Mediengruppe eines der größten Medienhäuser in Deutschland. Allerdings hat das Unternehmen eine dezentrale Struktur und agiert deshalb vergleichsweise unabhängig. Es gibt beispielsweise keine überregionale "Radio-Holding" in München, von der Radio Kiepenkerl oder andere Hörfunkbeteiligungen gesteuert werden. Von daher halten sich auch die Synergien zwischen den einzelnen Beteiligungen in Grenzen.
teltarif.de: Nicht allen Lokalradios geht es wirtschaftlich gut. Unter Druck standen beispielsweise immer wieder Sender der Westfunk-Gruppe (Funke) im Ruhrgebiet. Die Corona-Krise macht die Situation sicherlich nicht einfacher. Bei Radio Kiepenkerl ist Ihnen das nicht unbekannt. Vor Ihrer Zeit als Chef bei Radio Kiepenkerl erhöhte die Ippen-Mediengruppe ihre Anteile auf 100 Prozent, als sich der Sender in schwierigem Fahrwasser befand. Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, um ein Lokalradio zum ökonomischen Erfolg zu führen?
Andreas Kramer: Für den nachhaltigen Erfolg eines Lokalradios ist es extrem wichtig, besonders tief im Lokalen verankert zu sein. Insbesondere gilt dies für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Als Hörer muss ich den Eindruck haben, dass es "mein Radio" ist. Ohne Lokalradio würde vor Ort etwas fehlen. Dass es sich hierbei übrigens um ein Erfolgsrezept handelt, zeigt auch die Strategie unseres öffentlich-rechtlichen Mitbewerbers WDR2. Dort hat man sich offenbar viel vom Erfolgskonzept der NRW-Lokalradios abgeschaut, wenn es z.B. um Musik, Hörernähe oder auch Aktionen geht.
teltarif.de: Kern Ihres Programms ist natürlich der Lokalanteil abseits des Rahmenprogramms. Wie hoch ist dieser Lokalanteil bei Radio Kiepenkerl im Vergleich zu anderen Stationen und wie würden Sie das quantitative Maximum an lokalen Inhalten (in Stunden) bewerten, welches Sie vor Ort produzieren können?
Andreas Kramer: Der Lokalanteil ist von Sender zu Sender unterschiedlich und liegt in der Regel zwischen vier und zwölf Stunden. Wir sind 1992 mit fünf Stunden gestartet und haben unsere lokale Sendezeit auf nunmehr zehn Sendestunden ausgebaut. Mehr Live-Programm wäre meiner Meinung nach mit unseren Kapazitäten nicht möglich, auch wenn man natürlich theoretisch z.B. in den Abendstunden noch Programm aus dem Medienzentrum Dülmen automatisieren könnte.
teltarif.de: Welche Sendungen bzw. Inhalte werden von den Hörern am meisten abgefragt?
Andreas Kramer: Vor allem Programminhalte mit Nutzwert für den Hörer. Besonders beliebt ist zum Beispiel die Morgenshow, aber auch Beiträge und Aktionen haben bei uns oberste Priorität. Wobei zunehmend das "Wie" und gar nicht mehr so das "Was" im Vordergrund unserer Programmplanung steht, also "wie" setze ich ein Thema oder eine Aktion bestmöglich im Programm um. Grundsätzlich sollen die Inhalte das Leben unserer Hörer einfacher und schöner machen. Wichtig sind heutzutage vor allem unsere On Air Personalities. Die Menschen machen den Unterschied aus – allen voran in der Morgenshow, aber auch in den Nachrichten oder Beiträgen.
teltarif.de: Unter der Marke "Dein Radio" bieten die NRW-Lokalradios nach Genre ausgerichtete Webchannels. Wie intensiv werden diese Programme bei Ihnen genutzt?
Andreas Kramer: Dabei handelt es sich um reine Musikstreams, welche 2014 an den Start gingen, allerdings ist die Nutzung bislang noch überschaubar. Problematisch ist, dass die Webchannels derzeit noch nicht ausreichend für alle NRW-Lokalradios individualisiert sind, was sich noch ändern soll. Unser Wunsch ist, dass wir zukünftig noch mehr lokale IDs sowie Lokalwerbung und Nachrichten ausspielen können.
teltarif.de: In NRW wird nun erstmals eine landesweite DAB+-Kette ausgeschrieben. Welche Bedeutung hat diese für die NRW-Lokalradios?
Andreas Kramer: Für uns bedeutet dies natürlich indirekt mehr Wettbewerb, da diese Sender dann in Konkurrenz zu radioNRW treten. Hierdurch käme es bei unserem Mantelprogrammanbieter radioNRW vermutlich zu niedrigeren Werbeerlösen, was wiederum sinkende Ausschüttungen an die Lokalstationen bedeuten würde. Dennoch müssen und wollen wir uns diesem Wettbewerb stellen.
teltarif.de: Welche Rolle spielen Smart Speaker für Ihren Sender?
Andreas Kramer: Der Absatz an Smart Speakern nimmt immer weiter zu, weshalb deren Bedeutung auch für uns Programmmacher immer weiter zunimmt. Wir müssen dort sein, wo unsere Hörer sind. Aus diesem Grund ist es zum Beispiel auch wichtig, mit einer eigenen App bzw. Anwendung bei Amazon vertreten zu sein. Durch ein eigenes Produkt können wir unsere Hörernähe weiter ausbauen und das Senderimage stärken.
teltarif.de: Herr Kramer, vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person: Andreas Kramer
Andreas Kramer wuchs im Sauerland auf und studierte in Münster Politikwissenschaft, Wirtschaftspolitik und Soziologie. Seine Magisterarbeit schrieb er zum Thema "Publizistischer Zugewinn durch den Lokalfunk in NRW? Probleme im ordnungspolitischen Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl und Gewinnorientierung". Erste Radioerfahrungen hat er Mitte der 1990er Jahre bei Hellweg Radio im Kreis Soest, später auch bei Radio MK, radioNRW, 100,5 Das Hitradio und 104.6 RTL Berlin gesammelt. Seit 2005 ist Andreas Kramer Chefredakteur von Radio Kiepenkerl im Kreis Coesfeld/Münsterland. In den ersten 10 Jahren hat er zusätzlich die Morgenshow moderiert.
In einem weiteren Interview sprachen wir mit Regiocast-Geschäftsführer Dirk van Loh über DAB+ und Webradio.