Themenspezial: Verbraucher & Service Verfassungsschutz

Grundsatzurteil weist Verfassungsschutz in die Schranken

Verdeckte Ermittler, Ausspähen von Wohnungen, Online-Durch­suchungen: Am Beispiel Bayerns schreibt Karls­ruhe erst­mals en détail vor, an was sich der Verfas­sungs­schutz halten muss, wenn er Menschen heim­lich über­wacht. Das könnte bundes­weit Auswir­kungen haben.
Von dpa /

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht schützt unbe­schol­tene Bürger besser davor, unge­recht­fer­tigt ins Visier des Verfas­sungs­schutzes zu geraten. Die Karls­ruher Richter gaben heute einer Verfas­sungs­beschwerde gegen das beson­ders weit­gehende baye­rische Verfas­sungs­schutz­gesetz in vielen Punkten statt. Nach Einschät­zung von Landes­innen­minister Joachim Herr­mann (CSU) laufen die Vorgaben des mehr als 150-seitigen Grund­satz­urteils darauf hinaus, dass auch die anderen Länder und der Bund ihre Gesetze über­arbeiten müssen. (Az. 1 BvR 1619/17).

Das baye­rische Gesetz muss bis spätes­tens Ende Juli 2023 ange­passt werden. Betroffen sind unter anderem die Rege­lungen zum Ausspähen und Abhören von Wohnungen, zur Online-Durch­suchung und zur Handy-Ortung, zum Einsatz soge­nannter V-Leute und zu längeren Obser­vationen.

Fern­mel­dege­heimnis

Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz
Bild: picture alliance/dpa | Peter Kneffel
Sie verstoßen gegen Grund­rechte wie das Fern­mel­dege­heimnis oder den Schutz der infor­matio­nellen Selbst­bestim­mung. Bis zur Reform dürfen die Instru­mente nur noch einge­schränkt einge­setzt werden. Die Befugnis, Auskunft über Daten aus Vorrats­daten­spei­che­rung zu ersu­chen, erklärte der Erste Senat direkt für nichtig.

Gerichts­prä­sident Stephan Harbarth sagte bei der Urteils­ver­kün­dung, das Grund­gesetz lasse dem Gesetz­geber "substan­ziellen Raum, den sicher­heits­poli­tischen Heraus­for­derungen auch im Bereich des Verfas­sungs­schutzes Rech­nung zu tragen". "Zugleich setzt die Verfas­sung hierbei gehalt­volle grund­recht­liche Schranken."

Ein zentraler Punkt der Entschei­dung ist, dass für die Verfas­sungs­schutz­behörden zum Teil andere Anfor­derungen gelten als für die Polizei, die selbst zum Eingreifen befugt ist. Verein­facht gesagt: der Verfas­sungs­schutz darf mehr bei der Über­wachung. Dafür gelten umso stren­gere Regeln, wenn es darum geht, die gewon­nenen Daten an andere Behörden weiter­zugeben. Im Einzelnen heißt das:

Heim­liche Über­wachung

Hier reicht als Voraus­set­zung in der Regel ein "hinrei­chender verfas­sungs­schutz­spe­zifi­scher Aufklä­rungs­bedarf". Anders als bei der Polizei muss keine Gefahr vorliegen. Einzige Ausnahme: wenn Maßnahmen "zu einer weitest­gehenden Erfas­sung der Persön­lich­keit führen können". Beson­dere Anfor­derungen gelten auch, wenn Unbe­tei­ligte mit in die Über­wachung geraten.

Grund­regel ist: Je tiefer eine Maßnahme in Grund­rechte eingreift, desto drin­gender muss das "Beob­ach­tungs­bedürfnis" sein. In bestimmten Fällen muss künftig eine unab­hän­gige Stelle die Maßnahme vorab kontrol­lieren.

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Die Weiter­gabe an andere Behörden ist nur zulässig, wenn sie dem "Schutz eines beson­ders gewich­tigen Rechts­guts" dient. Je nachdem, welche Stelle die Daten bekommt, unter­scheiden sich die Anfor­derungen. Eine Straf­ver­fol­gungs­behörde darf beispiels­weise nur dann Infor­mationen vom Verfas­sungs­schutz erhalten, wenn es um beson­ders schwere Straf­taten geht.

Das baye­rische Gesetz war 2016 auf Bestreben der CSU grund­legend über­arbeitet worden - unter anderem um die Zusam­men­arbeit von Nach­rich­ten­diensten und Polizei zu verbes­sern. Minister Herr­mann hatte die Reform damals auch mit der wach­senden Bedro­hung durch isla­mis­tischen Terro­rismus und Rechts­extre­misten begründet.

Unmit­telbar nach der Verkün­dung kündigte Herr­mann an, das Urteil möglichst schnell umzu­setzen. "Es müssen wahr­schein­lich der Bund und alle Länder ihre Gesetze ändern", sagte er in Karls­ruhe. "Denn es gibt nach meiner Kenntnis kein einziges Gesetz, das all diesen Vorgaben, die heute formu­liert worden sind, entspricht."

Bayerns Staats­kanz­lei­chef Florian Herr­mann (CSU) sagte in München, es seien keine Befug­nisse verboten worden. Viel­mehr müsse der Gesetz­geber nun die Voraus­set­zungen konkreter regeln.

"Dieses Urteil strahlt in die ganze Repu­blik aus"

Die Gesell­schaft für Frei­heits­rechte (GFF), die die Verfas­sungs­beschwerde koor­diniert hatte, rechnet eben­falls mit bundes­weiten Auswir­kungen. "Dieses Urteil strahlt in die ganze Repu­blik aus", erklärte einer ihrer Prozess­bevoll­mäch­tigten, Bijan Moini. GFF-Spre­cherin Maria Scharlau sagte in Karls­ruhe: "Auch Verfas­sungs­schutz­ämter, die ja die Verfas­sung schützen sollen, müssen sich an die Grund­sätze der Verfas­sung selbst halten. Klingt selbst­ver­ständ­lich, musste aber erst errungen werden."

Bundes­jus­tiz­minister Marco Busch­mann (FDP) erklärte: "Die Entschei­dung gibt uns deut­lichen Rücken­wind für das Programm unseres Koali­tions­ver­trags zur Stär­kung der Bürger­rechte." So sei verein­bart, die Schwelle für den Einsatz von Über­wachungs­soft­ware hoch­zusetzen.

Als Kläger hatte die GFF drei Mitglieder der Verei­nigung der Verfolgten des Nazi­regimes - Bund der Anti­faschis­tinnen und Anti­faschisten (VVN-BdA) gewonnen, die im baye­rischen Verfas­sungs­schutz­bericht als "links­extre­mis­tisch beein­flusste Orga­nisa­tion" erwähnt wurde. Im kürz­lich vorge­stellten Bericht für das Jahr 2021 taucht sie erst­mals nicht mehr auf.

Gegen die umstrit­tenen Geset­zes­ände­rungen hatte 2017 auch die Land­tags­frak­tion der Grünen Klage beim Baye­rischen Verfas­sungs­gerichtshof einge­reicht. Darüber wurde bislang nicht entschieden - der Ausgang dürfte nun aber vorge­zeichnet sein.

Urteil bringt Bayerns Staats­regie­rung unter Druck

Nach dem Karls­ruher Urteil zu den Befug­nissen des baye­rischen Verfas­sungs­schutzes hat die Staats­regie­rung eine Geset­zes­reform ange­kün­digt. Innen­minister Joachim Herr­mann (CSU) betonte, dass eine Novelle - wie vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht gefor­dert - bis spätes­tens Ende Juli 2023 machbar sei und "schnellst­mög­lich" umge­setzt werden solle.

Staats­kanz­lei­chef Florian Herr­mann (CSU) betonte, dass die Regie­rung das Urteil zunächst genau analy­sieren und dann das Gesetz entspre­chend den Vorgaben anpassen werde. Dazu gehöre auch, dass der Verfas­sungs­schutz unver­zichtbar sei, um die frei­heit­liche Demo­kratie im Land gegen ihre Feinde zu schützen.

Die beiden Minister werteten das Urteil als Bekenntnis zur Notwen­dig­keit des Verfas­sungs­schutzes, seiner Behörden und Befug­nisse in einer wehr­haften Demo­kratie, zugleich berück­sich­tige es auch die Grund­rechte der Bürger. "Das in Ausgleich zu bringen, ist Kern des Urteils von heute", sagte Florian Herr­mann.

Zwar seien in dem 150-Seiten umfas­senden Urteil "etliche Bestim­mungen des baye­rischen Gesetzes" kriti­siert worden. Es gehe aber dabei nicht darum, bestimmte Befug­nisse zu verbieten, betonte der Staats­kanz­lei­chef. Viel­mehr müsse der Gesetz­geber nun die Voraus­set­zungen für Maßnahmen wie den Einsatz soge­nannter V-Leute konkreter regeln.

Rege­lung von Eingriffs­hürden

Dazu gehöre etwa die Rege­lung von Eingriffs­hürden wie einem Rich­ter­vor­behalt, um Maßnahmen einleiten zu können. Rege­lungs­bedürftig sei auch das Verhältnis zwischen Verfas­sungs­schutz und Polizei. Nach Ansicht des Staats­kanz­lei­chefs enttäuscht das Urteil all jene, die gehofft hätten, dass bestimmte Befug­nisse verboten würden. Innen­minister Herr­mann betonte, die gefor­derten neuen Hürden für die Über­mitt­lung von Infor­mationen zwischen den Sicher­heits­behörden würden die Arbeit nicht einfa­cher machen.

Die Oppo­sition im baye­rischen Landtag wertete das Urteil als schwere Pleite für die CSU. "Die Staats­regie­rung muss jetzt zeitnah ein verfas­sungs­kon­formes Gesetz vorlegen und damit Frei­heit und Sicher­heit in Balance bringen", sagte FDP-Land­tags­frak­tions­chef Martin Hagen heute in München. Die Entschei­dung sei ein Denk­zettel für die CSU.

"Deftige Watschn"

SPD-Frak­tions- und Landes­chef Florian von Brunn forderte schnelle Konse­quenzen - die CSU habe eine "deftige Watschn" erhalten, schrieb er beim Kurz­nach­rich­ten­dienst Twitter. Grünen-Frak­tions­chefin Katha­rina Schulze sprach von einem "epochalen Urteil". Das Gesetz sei von verfas­sungs­recht­lichen Mängeln so durch­löchert wie ein Schweizer Käse.

"Erneut muss ein Gericht ein CSU-Gesetz korri­gieren - so geht keine seriöse Innen­politik." Die AfD forderte, dass nach dem Urteil die Beob­ach­tung ihrer Partei und ihrer Jugend­orga­nisa­tion durch den "poli­tisch instru­men­tali­sierten Verfas­sungs­schutz" einge­stellt werden müsse.

In einer weiteren Meldung geht es um das Thema EuGH weist Klage gegen EU-Urhe­ber­rechts­reform zurück.

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