Digitale Agenda

Der Spagat der Kanzlerin: Netzneutralität ja - aber mit "Überholspur"

"Spezialdienste im Internet" - sind diese nach Auffassung der Bundesregierung mit Netzneutralität vereinbar? Bundeskanzlerin Merkel probt den Spagat - und nennt Beispiele für priorisierte Dienste.
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Der Spagat der Kanzlerin: Netzneutralität ja - aber mit Überholspur Der Spagat der Kanzlerin: Netzneutralität ja - aber mit Überholspur
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"Merkel plädiert für 'Spezialdienste' im Internet" - so titelten viele Medien nach der gestrigen Rede der Kanzlerin auf dem Kongress "Digitising Europe". teltarif.de und andere Medien trauten sich, von einer Ablehnung der Netzneutralität zu sprechen. Dieser Zwiespalt zeigt: Die Bundesregierung steckt in einem Spagat, aus dem sie nur schwer wieder herauskommen kann. Wir werfen nochmals einen genaueren Blick auf den Original-Wortlaut der Rede von Bundeskanzlerin Merkel.

Prinzipiell zieht sich der Spagat auch durch die Bevölkerung: Internet-Nutzer gehen oft wie selbstverständlich davon aus, dass alle ihre Daten gleichberechtigt im Netz transportiert werden. Doch Gratis-Dienste wie YouTube beanspruchen mittlerweile so viel Datentraffic im Netz, dass die Netzbetreiber und ihre Lobby-Vertreter vermehrt fordern, "Güteklassen" im Internet einzuführen, damit einzelne Dienste - gegebenenfalls gegen Aufpreis - priorisiert transportiert werden. Doch wem soll es die Bundesregierung recht machen: Den Bürgern, der Industrie - oder per Spagat einfach beiden?

Merkel lobt eigene Digitale Agenda und den IT-Gipfel

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"Dieses Thema [Digitising Europe] treibt mich und es treibt die ganze Bundesregierung um, weil wir wissen, dass wir in Europa in einigen Bereichen zurückgefallen sind – von der Fähigkeit, Chips herzustellen, bis zur Fähigkeit, große Internetsuchmaschinen durchzusetzen – und deshalb aufholen müssen", leitet die Bundeskanzlerin ihre Rede ein. Nach diversen Ausführungen zu Industrie 4.0 und Startup-Förderung kommt Angela Merkel dann auf die "Digitale Agenda" zu sprechen.

"Es geht vor allen Dingen darum, gemeinsam mit der Wirtschaft alles an Bedingungen zu schaffen, die für die Infrastruktur notwendig sind, sowie den rechtlichen Rahmen zu setzen, der für eine gute Entwicklung der digitalen Wirtschaft notwendig ist" - dieser Satz wird den anwesenden Wirtschaftsvertretern sicherlich gut gefallen haben. Trotzdem karikiert sie regelrecht ihre eigene Tätigkeit, wenn sie sagt: "Normalerweise gehen wir auf die Jahresversammlungen der Wirtschaftsverbände, halten dort eine Rede, werden kritisiert, kritisieren unsererseits vielleicht; das ist bezüglich der Interaktion ein relativ armer Prozess." Demgegenüber lobt sie das seit Jahren in Deutschland eingesetzte Instrument des "Nationalen IT-Gipfels". Trotzdem könnten die "Herausforderungen der Digitalisierung auf gar keinen Fall national gestemmt werden, [...] wir brauchen die Vorteile des europäischen Binnenmarkts."

Beispiele für Spezialdienste: Fahrerloses Auto und Telemedizin

Das es zum Thema Netzneutralität wohl heftige Diskussionen gegeben haben muss, drückt die Bundeskanzlerin wie folgt aus: "Hierbei hat sich die Bundesregierung zu einem gemeinsamen Verständnis zusammengerauft, wie ich einmal sagen will. Dabei geht es um zwei Dinge: sowohl um das freie, gut zugängliche Internet als auch um das innovationsfreundliche Internet." Dann kommt sie auf die umstrittenen "Spezialdienste" zu sprechen:

"Was heißt 'innovationsfreundliches' Internet? Es bedeutet, dass es eine bestimmte Sicherheit für Spezialdienste gibt. Diese Spezialdienste werden zunehmen, aber sie können sich nur entwickeln, wenn auch berechenbare Qualitätsstandards zur Verfügung stehen. Diese beiden Seiten muss man zusammenbringen. Ich glaube, dass uns das in den Verhandlungen in Brüssel in kurzer Zeit gelingen kann. Deutschland drückt hierbei sehr auf das Tempo. Denn wenn Sie das fahrerlose Auto haben wollen oder wenn Sie bestimmte telemedizinische Anwendungen haben wollen – um nur zwei Beispiele zu nennen –, dann müssen Sie natürlich eine fehlerfreie und immer gesicherte Datenübertragung haben. Ansonsten können Sie diese Anwendungen überhaupt nicht durchführen. Deshalb brauchen wir beides, das freie Internet und das qualitätssichere Internet für Spezialdienste."

Ihr Konzept zur Netzneutralität hat die Bundesregierung heute übrigens bei der EU-Kommission eingereicht. Auch hier geht es um die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Dienste mit einem zusätzlichen Rechtsrahmen für priorisierte Spezialdienste.

Breitbandausbau: Wirtschaftlichkeit versus Flächendeckung

Der Bundeskanzlerin ist allerdings auch klar, dass dies nur funktionieren kann, wenn es in Deutschland möglichst schnell einen flächendeckenden Breitbandausbau gibt: "Denn wir brauchen uns über Netzneutralität nicht zu unterhalten, wenn die Netzkapazitäten nicht zur Verfügung stehen. Selbst bei 50 Megabit pro Sekunde haben Sie noch Schwierigkeiten, große Aufteilungen vornehmen zu können. Vielmehr brauchen wir viel größere Bandbreiten. Wir brauchen aber eben auch eine verlässliche Internetstruktur in den ländlichen Regionen."

Das, was wir früher als "Daseinsvorsorge" bezeichnet hätten, sei immer über staatliche Institutionen garantiert worden, wie Wasseranschlüsse oder Stromanschlüsse. Heute arbeite der Staat mit der privaten Wirtschaft daran, "Daseinsvorsorge im Sinne der Verfügbarkeit von Breitband für jeden Haushalt sicherzustellen – wissend, dass dies nicht für jeden Haushalt gleich wirtschaftlich ist, aber natürlich von der Überzeugung ausgehend, dass auch jemand, der auf dem Lande lebt, einen Zugang zum Internet haben muss."

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