Faktenprüfung: Hat Google Europa-Chef Matt Brittin Recht?
Die Financial Times (FT) und der Europäische Dachverband der Festnetzbetreiber (ETNO) hatten zu einer Diskussionsrunde (FT-ETNO Panel) über die Zukunft des EU-Internet-Ökosystems nach Brüssel geladen. Wie sollen alle digitalen Akteure zu einer Gigabit-Zukunft beitragen? In Brüssel diskutierte Googles Europa-Chef Matt Brittin mit Christel Heydemann, der neuen CEO von Orange (Frankreich), László Ignéczi, dem neuen Vorsitzenden des Gremiums Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK / BEREC), Konstantinos Masselos von der Griechischen Kommission für Telekommunikation und Post und mit Vittorio Colao, dem ehemaligen Vodafone-Group CEO und Noch-Minister für technologische Innovation und digitale Transformation in Italien der scheidenden Draghi-Regierung.
Google lehnt Kostendeckung ab
Google's Europachef Matt Brittin möchte sich an den Netzkosten nicht beteiligen. Es könnte ihm aber Vorteile bringen.
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Wie bereits berichtet lehnte Brittin das "Konzept der fairen Kostendeckung im Breitbandbereich" ab, da es der Netzneutralität zuwiderlaufe. Brittin verteidigte Googles "Steuervermeidungs- und Arbitrage-Modelle". Schon 2012 hatte er vor dem Rechnungsprüfungsausschuss des Vereinigten Königreichs einräumen müssen, dass sein Unternehmen Milliarden von Pfund einnehme, aber im Vereinigten Königreich wenig bis gar keine Steuern zahle. Das Ergebnis der Anhörung war, dass Google "ein Unternehmen mit kurzen Armen und tiefen Taschen ist", wie es der langjährige Branchen-Experte John Strand (Strandconsult) aus Dänemark in seinem aktuellen Newsletter beschreibt.
Gibt es in Europa eine Pflicht zur Netzneutralität?
Strand Consult hatte in den letzten 10 Jahren zahlreiche Analysen zu Netzneutralitätsvorschriften in der ganzen Welt veröffentlicht. In der Tat enthält die einschlägige Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments den Begriff "Netzneutralität" nicht. Die EU-Vorschriften verbieten es aber den Breitbandanbietern, Endkunden zu blockieren oder zu drosseln.
In den halbjährlichen Berichten des Gremiums Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK / BEREC) werde behauptet, dass es heute in der EU kein Problem mit der Netzneutralität gebe und dass es vor der Verabschiedung der Vorschriften keine absichtlichen, systematischen Verstöße durch Breitbandanbieter gab.
Nach Ansicht von Strand hindere nichts in der EU-Politik Google daran, zur Verbesserung der Konnektivität beizutragen, indem es die Kostendeckung in der mittleren und letzten Meile des Breitbandnetzes unterstütze. Daher gibt es keinen "inhärenten Konflikt" zwischen fairer Kostendeckung und Netzneutralität.
Wieviel Netz baut Google wirklich?
Auf der FT-ETNO-Veranstaltung prahlte Brittin mit Googles Infrastruktur-Investitionen: "Wir übertragen den Datenverkehr auf 99 Prozent der Strecke, bringen ihn näher an die Nutzer und machen ihn für unsere Telekommunikationspartner effizienter. Tatsächlich, so Strand, habe Google nur in fünf strategisch wichtigen EU-Ländern eigene Rechenzentren aufgebaut. Es blieben aber noch 22 EU-Länder, in denen es für Google unwirtschaftlich sei, zu investieren. Die Behauptung von Brittin sei somit hinsichtlich der Entfernung zum End-Kunden und der damit verbundenen Kosten falsch.
Google habe zwar in Unterseekabel und eigene Datenzentren investiert, aber im Gegensatz zu Breitbandanbietern, die Inhalte von allen Anbietern durchleiten müssen, investiere Google nur in die Infrastruktur für seine eigenen Inhalte. Die Infrastruktur-Investitionen von Google in Höhe von einigen Milliarden Dollar würden im Vergleich zu den jährlichen Einnahmen von 257 Milliarden Dollar verblassen. Im Gegensatz dazu gäben Breitbandanbieter 20-30 Prozent ihres Umsatzes nur für die Infrastruktur aus.
Keine Investments wo Verpflichtungen drohen
Google vermeide es weitgehend, an Orten zu investieren, an denen man der Regulierung und Verpflichtungen wie dem Universaldienst unterliegen würde. Google vermeide weitgehend die Nutzung von Internetvermittlungsstellen (oder Peering-Punkte wie z.B. DE-CIX), weil es lieber ein paralleles Internet betreibe. Stattdessen erwarte Google von den Breitbandanbietern, dass sie die Ressourcen alleine für die Verwaltung der YouTube-Daten (die täglich um 3,7 Millionen Videos wachsen) ungeachtet des Wachstums und der Kosten aufrechterhalten müssten, auch wenn nur ein Bruchteil der Endnutzer auf diese Videos zugreife.
Es fehlen belastbare Zahlen
Immerhin weise Brittin zu Recht darauf hin, dass die europäischen Betreiber noch keine aussagekräftigen Verkehrs- und Kostendaten für einzelne Netze veröffentlicht hätten. Gesicherte Nachweise könnten nämlich die Diskussion zu Gunsten der EU-Breitbandanbieter verändern, findet Strand.
Strand Consult stellt in diesem Zusammenhang seine eigene Arbeiten vor: Im Bericht "Middle Mile Economics: Wie Videounterhaltung das Geschäftsmodell für Breitband untergräbt" hat Strand Fallstudien über ländliche FTTH-Netze (Fiber to the Home) aufgeführt, allerdings am Beispiel der Mängel der US-Breitbandanbieter. Strand weiß, dass die Diskussion in den USA und anderen Ländern weiter fortgeschritten ist als hierzulande. In den USA gebe es eine intensive Diskussion über digitale Gerechtigkeit; etwa zwei Dutzend Organisationen für soziale Gerechtigkeit hätten der Federal Communications Commission (FCC, vergleichbar mit der deutschen BNetzA) mitgeteilt, dass Unternehmen wie Google einen finanziellen Beitrag leisten müssen, um gemeinsame Konnektivitätsziele zu erreichen.
Beispiel Südkorea
In Südkorea, der wohl "weltweit führenden Breitbandnation", hätten die politischen Entscheidungsträger erkannt, dass die Qualität der Bereitstellung von Inhalten sowohl in der Verantwortung der Breitbandanbieter als auch der Anbieter von Inhalten wie Google liegt.
Weltweiter Trend für faire Kostendeckung bei Breitband
Politische Entscheidungsträger auf der ganzen Welt bemühten sich, die Investitionslücken im Breitbandnetz zu schließen. Internationale Organisationen wie die ITU, die Gesetzgeber in den USA und Südkorea sowie die Regulierungsbehörden für Telekommunikation in den USA, der EU, Japan und Südkorea haben längst überfällige Untersuchungen zu den wirtschaftlichen Aspekten und Geschäftsmodellen im Breitbandbereich eingeleitet.
Strand schreibt dazu: "Das Internet hat sich in den letzten zehn Jahren erheblich verändert, und es ist gerechtfertigt, dass das Thema erneut aufgegriffen wird, zumal das Streaming von Videounterhaltung kein Thema war, als die politischen Rahmenbedingungen für Breitbanddienste festgelegt wurden." Wichtig sei, dass diese Untersuchungen die Verantwortung der Handvoll "großer Streamer" wie Netflix, Googles YouTube, Amazon Prime, Disney+ und Microsoft Xbox untersuchten, die etwa 80 Prozent des weltweiten Internetverkehrs ausmachten.
Die politischen Entscheidungsträger möchten verstehen, wie die großen Streamer die Kosten für die mittlere und letzte Meile des Breitbandnetzes tragen sollen (zu denen sie heute wenig bis gar nichts beitragen), wie sie einen finanziellen Beitrag zur Erreichung sozialer Ziele wie dem Universaldienst leisten sollen (zu dem sie heute wenig bis gar nichts beitragen) und welche Rolle sie bei der Entstehung schädlicher Treibhausgasemissionen spielen.
Demokratisierung des Bezahlmodells - Zahlt, was ihr nutzt
Gegenwärtig erhalten Breitbandanbieter Abonnementgebühren auf der Grundlage einer Reihe von Dienstleistungen, die sie für ihre Kunden erbringen, darunter Bau und Wartung der physischen letzten Meile, Netztechnologie und -verwaltung, Forschung und Entwicklung, Kundenbetreuung und Kundendienst. Um Inhalte von Dritten in ihrem Netz zu ermöglichen, muss ein Breitbandanbieter eine Reihe anderer, eigenständiger Dienste erbringen.
Wenn Inhalte in das Netz eines Breitbandanbieters gelangen, muss der Breitbandanbieter für Speicherung, Datenhaltung, Berechnung, Übertragung, Migration, Vernetzung, Bereitstellung und Sicherheit sorgen. Dies sind die gleichen Dienste, die Google Cloud gegen eine Gebühr auch anbietet. Der Zugang zu Google Cloud wird auf einer Pay-as-you-go-Basis (auf Deutsch: Zahle nur das, was Du auch verbrauchst) angeboten. Die Gebühren richten sich nach der Nutzung oder nach dem Anfall der Kosten. Darin sehe niemand etwas Ungerechtes oder Diskriminierendes.
Bezahlung bringt Google Vorteile
Einzelpersonen und Unternehmen können Google-Cloud-Dienste buchen. Die Unzulänglichkeiten zwischen Breitband- und Inhaltsanbietern könnten mit einfachen, Cloud-ähnlichen Schnittstellen behoben werden. In der Tat haben südkoreanische Breitbandanbieter dies bereits für Inhaltsanbieter eingeführt, die mehr als ein Prozent des Datenverkehrs ausmachen oder 1 Million oder mehr Nutzer haben. Die Gebühren belaufen sich auf etwa 21 Euro pro Terabyte (2 Cent/GB); das sei die gleiche Summe, die Google Cloud den Europäern für die Übertragung von Daten in sein Netzwerk berechne.
Google zahlt schon seit einiger Zeit solche Gebühren an südkoreanische Breitbandanbieter. Dies hat die Verbreitung von FTTH-Abonnements nicht verlangsamt, die in den letzten drei Jahren zugenommen hat und nun 86,6 Prozent der gesamten Breitbandanschlüsse ausmacht, den höchsten Wert in der OECD, hat Strand ermittelt. Diese Tatsache widerlege Brittins Behauptung, dass Transitgebühren den Wohlstand in Südkorea schmälern könnten.
Zahlungen von Google könnten Google auch nutzen
Ja, so kommt Strand zu dem Schluss: "Es mag für Google etwas teurer sein, in Südkorea Geschäfte zu machen, als dies früher der Fall war, als der Netzzugang noch kostenlos war, aber die Zahlung von Google trägt dazu bei, dass die mittlere Meile des Breitbandnetzes aufgerüstet wird, und fördert den Breitbandverbrauch." Außerdem mache Google in Südkorea mehr Geld. Der Umsatz sei 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 32,8 Prozent gestiegen und Betriebsgewinn stieg im Jahresvergleich um 88,4 Prozent. Unterm Strich habe man dort 152,1 Prozent mehr verdient.
Für Strand hat es den Anschein, dass die Gebühren der Rentabilität von Google nicht geschadet, sondern vielleicht sogar noch geholfen hätten.
Aus aktuellem Anlass wäre die Einbeziehung der Ukraine in die EU-Roaming-Richtlinien ein guter Schritt.