OTT: Zur Beteiligung an Ausbaukosten von Breitbandnetzen
Vom 23.02. bis zum 19.05.2023 führt die Europäische Kommission eine Konsultation zum Thema "Die Zukunft des Sektors der elektronischen Kommunikation und seiner Infrastruktur" durch. Dieser Beitrag beschreibt und bewertet die Beratung. Insbesondere werden Schlussfolgerungen zur Berechtigung wirtschaftspolitischer Forderungen nach Netzinvestitionsabgaben von großen Over-The-Top-Unternehmen gezogen.
Zu Over-The-Top-Anbietern [OTT] zählt man Unternehmen, die digitale Plattformen für Online-Massenmarktdienste (z.B. Video- oder Audio-Sharing, soziale Medien) über das Internet bereitstellen, ohne selbst in großem Maßstab eigene Anschlussnetze zur Telekommunikation (TK) zu besitzen. Die wohl in Deutschland bekanntesten OTT-Spieler sind Google/Alphabet, Apple, Meta/Facebook, Microsoft und Amazon. Sie werden auch als "Big-Five-Tech"-Konzerne und mit dem Akronym "GAMMA" bezeichnet.
Konsultation zu Netznutzungsgebühr
Sitzung des Europäischen Rates in Brüssel: Sollen die fünf GAMMA Unternehmen eine Netznutzungsgebühr zahlen müssen?
Foto: Picture Alliance/dpa/XinHua
Spitzenfunktionäre der Europäischen Kommission wie insbesondere Thierry Breton (ehemaliger Vorstandsvorsitzender von France Telecom) haben verschiedentlich zu erkennen gegeben, dass sie baldmöglichst gern Netznutzungsgebühr (NNG) von großen OTT-Konzernen erheben würden.
Bezüglich der NNG-Gestaltung sind vier Aspekte von großer Bedeutung:
1) Wer soll (2) wieviel (3) an wen (4) für welche Zwecke zahlen?
Der Gesetzgebungsprozess der EU sieht vor, dass entsprechenden Rechtsakten eine Konsultation/Beratung der (Fach-)Öffentlichkeit vorangeht. Offiziell lautet im hier diskutierten Kontext das Thema "Die Zukunft des Sektors der elektronischen Kommunikation und seiner Infrastruktur".
Hierzu hat die Generaldirektion Kommunikationsnetze am 23.02.2023 einen in 62 Blöcke gegliederten, Fragebogen online veröffentlicht, der wie folgt aufgebaut ist:
- 0. Vorspann (Einleitung, Hintergrund, Über Sie, 10 Fragen);
- 1. Technologische Entwicklungen und Marktentwicklungen: Auswirkungen auf künftige Netze und Geschäftsmodelle für die elektronische Kommunikation (20 Fragen);
- 2. Fairness für Verbraucher (11 Fragen);
- 3. Hindernisse für den Binnenmarkt (8 Fragen);
- 4. Fairer Beitrag aller digitalen Akteure (23 Fragen).
Rückschau: Unzureichende Netzinvestitionen großer OTT-Unternehmen?
Etablierte TK-Netzbetreiber tragen nämlich getreu dem Filmmotto "und täglich grüßt das Murmeltier" mindestens seit 2012 vor, dass GAMMA und weitere OTT-Konzerne wie insbesondere Netflix oder Spotify nicht nennenswert in eigene Netze investieren würden. Vielmehr würden letztere ihre Dienste über die Anschlussnetze klassischer TK-Unternehmen wie Deutsche Telekom (DT) realisieren und einen großen Teil der Verkehrskapazität belegen, ohne hierfür zu bezahlen.
Der Vorwurf des Trittbrettfahrens wird nicht nur von etlichen Mitgliedern des Europäischen Parlaments und Netzaktivisten, die gegen solche Zahlungen von OTT-Anbietern primär eine Verletzung des Prinzips des diskriminierungsfreien, gleichberechtigten Transports sämtlicher Inhalte über das Internet (Netzneutralität) anführen, zurückgewiesen.
Darüber hinaus wird sie u.a. vom Body of European Regulators for Electronic Communications), von der Vertretung Deutschlands bei der Europäischen Kommission sowie den Parteien der aktuellen Bundesregierung kritisiert.
Diese Ablehnung ist nicht nur überzeugend, weil eine Infrastrukturabgabe das Netzneutralitätsgebot von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2015/2120 eventuell verletzen würde. Darüber hinaus ist die Zurückweisung mindestens aus folgenden fünf Gründen sachgerecht:
- Es ist zu bezweifeln, dass OTT-Plattformbetreiber keine signifikanten Beträge in Netze investieren. Sie investieren zwar nicht in Anschlussnetze mit Glasfaserkabeln bis zum Gebäudekeller oder in die Wohnung (Fiber-To-The-Building bzw. Home [FTTB bzw. FTTH]). Sie wenden aber erhebliche Mittel für Datenzentren, Glasfaserkabel zum Verkehrstransport zwischen Datenzentren und Technik zur Unterstützung des Verkehrsaustausches mit TK-Netzbetreibern sowie zur Datenspeicherung in Endnutzernähe ("Content delivery nodes") auf. In einer von Google finanzierten Studie werden diese Investitionen in Europa mit durchschnittlich 4,5 Mrd. USD pro Jahr im Zeitraum 2014 bis 2017 geschätzt, wobei hiervon der größte Teil auf GAMMA entfällt.
- TK-Netzbetreiber profitieren von den Investitionen der OTT-Plattformbetreiber in Forschung & Entwicklung zur Schaffung neuer Dienste und in attraktive Inhalte, weil sie Endkunden so dazu motivieren Internetanschlüsse mit hohen Bandbreiten nachzufragen, die TK-Netzbetreibern höhere Deckungsbeiträge ermöglichen als Anschlüsse mit niedrigen Geschwindigkeiten.
- Verkehrsmengenabhängige Zahlungen von OTT-Plattformbetreibern für den Ausbau von FTTB/H-Netzen verkennen, dass die Netzkosten klassischer TK-Anbieter wie der DT primär durch die Zahl sowie Lage der Endkundenanschlüsse und nur zu einem kleinen Teil vom Verkehrsvolumen bestimmt werden.
- Der Wechsel zu einem "Sending Party Network Pays"-Mechanismus bei der Abrechnung von Verkehr zwischen Netzbetreibern erhöht die Marktmacht von Anschlussnetzbetreibern gegenüber OTT-Plattformen deutlich und erzeugt Regulierungsbedarf, weil OTT-Plattformbetreiber zwingend auf jedes Anschlussnetz angewiesen sind, um ihre Kunden lückenlos zu erreichen.
- Viele "klassische" TK-Netzbetreiber wie die DT sind in ihrem Geschäft mit stationären und mobilen Breitbandanschlüssen hoch profitabel. Es mangelt ihnen dort nicht an Kapital, sondern an Planungs- und Umsetzungsmitteln.
Fazit und Vorschau
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Foto: Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Im Ergebnis gibt es keinen strukturellen Nachteil klassischer TK-Netzbetreiber gegenüber GAMMA und anderen OTT-Plattformen dadurch, dass nur erstere in Anschlussnetze investieren. Eine NNG/Infrastrukturabgabe, die aktuell besonders eindringlich von der DT gefordert wird, ist sachlich nicht zwingend. Dementsprechend sollte die Bundesregierung daran festhalten, das DT-Plädoyer für eine Abgabe von GAMMA und anderen großen OTT-Plattformen zu ignorieren.
Letztlich könnte es der EU Kommission gar nicht darum gehen, die finanzielle Basis für den Aufbau von Breitbandnetzen zu verbessern, sondern ihre eigene politische Relevanz durch Verfügungsmacht über einen weiteren Fonds zu erhöhen. Entsprechend könnte die Kommission auch dafür plädieren, dass bei Elektrofahrzeugen deren Hersteller die Ladekosten der Käufer während der gesamten Lebensdauer der Vehikel ganz oder teilweise übernehmen, um die gesellschaftlich gewünschte Verbreitung derartiger Fahrzeuge zu beschleunigen. Es liegt nahe, dass deren Hersteller Wege suchen würden, um der Verschlechterung der Rendite des von ihnen eingesetzten Kapitals entgegen zu wirken. Ein überzeugender Grund dafür, dass dies nicht OTT-Unternehmen ebenso in Angriff nehmen würden, existiert nicht.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott leitet den Lehrstuhl für Unternehmens- und Technologieplanung an der Mercator School of Management Duisburg der Universität Duisburg-Essen.