FTTH/B: Bedenken an der Aussagekraft der Potenzialanalyse
Prof. Gerpott zu einer Studie im Auftrag des BMDV
Foto: Picture Alliance / dpa
Vor Kurzem veröffentlichte das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) für Deutschland eine „Potenzialanalyse des eigenwirtschaftlichen Ausbaus“ von Glasfaseranschlüssen bis zum Gebäude oder in die Wohnung (Fiber-To-The-Building/-Home [FTTB/H]). Der folgende Artikel beleuchtet diese Analyse.
Hintergrund
Prof. Gerpott zu einer Studie im Auftrag des BMDV
Foto: Picture Alliance / dpa
Das BMDV fördert seit 2015 den Ausbau von FTTB/H-Anschlüssen mit Steuergeldern, wenn in einer Region zumeist aufgrund niedriger Bevölkerungsdichte und/oder aufwandstreibender Geländeverhältnisse ein Ausbau solcher gigabitfähigen digitalen Anschlüsse nicht allein durch privatwirtschaftliche Initiative ("den Markt") erwartet werden darf. Im Oktober 2022 stoppte das Ministerium kurzerhand diese Subventionen für den Rest des Jahres, da das Subventionsbudget 2022 von 3 Mrd. EUR schon zu diesem Zeitpunkt ausgeschöpft war. Ein Grund dafür, dass Kommunen so viele Fördermittel beantragten, lag in dem Instrument, mit dem geklärt werden sollte, ob in einer Region der Einsatz staatlicher Ausbaumittel zu rechtfertigen ist, weil aufgrund fehlender Rentabilitätsperspektiven ansonsten eine Region unversorgt bleiben würde (sogenannte "Potenzialanalyse").
Um allgemeine Orientierungspunkte für solche Potenzialanalysen zu schaffen und nicht zuletzt, um die Höhe der beim Finanzministerium anzumeldenden Mittel begründen zu können, ließ das BMDV eine Studie erstellen. Sie hat das Ziel, auf der Ebene der 4.603 "Verwaltungsgemeinschaften", die 294 Landkreise und 10.784 Gemeinden (davon 2.055 kreisfreie Städte) umfassen, für 45 Mio. Haushalte und Unternehmen mit 22 Mio. Adresspunkten in Deutschland auszuweisen, ob die Möglichkeit des eigenwirtschaftlichen Ausbaus (EWA) eines gigabitfähigen Anschlusses unterstellt werden darf oder nicht. Die auf den 16.2.2023 datierten mit dem Titel "Konzeption und Durchführung der Potenzialanalyse des eigenwirtschaftlichen FTTB/H-Ausbaus in Deutschland" überschriebenen Untersuchungsergebnisse von Dajan Baischew und Kollegen veröffentlichte das BMDV am 24.2.2023. Im Folgenden wird die Studienmethodik kritisch umrissen. Anschließend werden Hauptergebnisse beleuchtet und ein Fazit gezogen.
Analysemethodik
Prof. Dr. Torsten J. Gerpott
Bild: Torsten J. Gerpott
Die Analyse ist so angelegt, dass sie ausschließlich auf durchschnittliche Investitionen, die für die Anbindung eines Gebäudes mit Glasfaser (FTTB) über lokale Verzweiger- und Hauptkabelsegmente mit dem Backbonenetz anfallen, Bezug nimmt. Der mittlere Verzweigerbereich wird mit 40,8 Anschlüssen bemessen. Die Linienführung entlang des Straßennetzes wurde im Einklang mit Netzkostenmodellen anderer Berater und Wissenschaftler plausibel quantifiziert.
Die Investitionen pro Meter wurden in Abhängigkeit von der Bevölkerungsdichte und der Kabellage inner- und außerhalb von Ortsnetzen für zehn Dichte-Lage-Kombinationen im Verzweigerbereich (inklusive aktiver Verzweigertechnik und drei Kombinationen im Hauptkabelbereich "über eine Marktumfrage bei Netzbetreibern, Planern und Tiefbauunternehmen erhoben" [3, S. 6]. Die Werte zur Investitionsschätzung für die Strecke vom Verzweigerendkabel zum Gebäude (Hausstich) beruhen auf „Stakeholder-Befragungen“ [3, S. 8]. Etwaige Investitionen in Verkabelungen innerhalb von Gebäuden werden nicht betrachtet [3, S. 2].
Die drei Investitionsteilbeträge (Verzweiger, Hauptkabel, Hausstich) werden zu einer Investitionssumme addiert. Diese Summe wird mit einer "Investitions(ober)grenze (CAPEX-)Grenze pro Verwaltungsgemeinschaft" [3, S. 10] verglichen, die "die Investitionshöhe je Anschluss [beschreibt], ab welcher ein Unternehmen nicht mehr bereit ist, Glasfaser" [3, S. 10] bzw., präziser FTTB, auszubauen. Als Datenquelle für diese Grenze wird wiederum auf die "Stakeholder-Befragung" verwiesen. Das Kostenmodell soll keine technische und ökonomische Netzplanung im konkreten Ausbaufall ersetzen [vgl. 3, S. 3].
Grundsätzlich entspricht die von Baischew et al. benutzte Methodik dem „State-of-the-Art“ von analytischen Kostenmodellen, ohne dass sie diesen erweitert. Leicht irritierend ist allerdings, dass (a) Stichproben für die Datenerhebung völlig im Dunkeln bleiben und (b) keine anonymisierte Fassung der CAPEX-(Grenz-)Werte aufgrund von „Vertraulichkeitsvereinbarungen“ [3, S. 10] zugänglich gemacht wird. Man muss also darauf hoffen, dass die Fachebene im BMDV darauf geachtet hat, dass die Stichproben und sonstigen Befragungen gültige Aussagen zulassen.
Materiell wesentlich problematischer ist, dass bei der EWA-Berechnung nicht die Wahrscheinlichkeit, dass Privathaushalte und Unternehmen einen Glasfaseranschluss nachfragen, direkt berücksichtigt wird [vgl. 3, S. 10]. Diese Wahrscheinlichkeit wird ihrerseits wesentlich von Konkurrenzangeboten (insbesondere "Überbau" durch Telekom Deutschland oder DOCSIS 3.1-Angebote durch "Breitbandkabelnetzbetreiber") und die Wirtschaftskraft möglicher Nachfrager in einer Region beeinflusst. Diese Lücke wirft starke Zweifel an der Aussagekraft der Analysen von Baischew et al. auf.
Analyseergebnisse
Ungeachtet dieser Bewertung fasst Tabelle 1 zentrale Ergebnisse der Studie im Hinblick auf die drei Indikatoren EWA (Spalte [1]), Ist-Versorgungsanteil mit Gigabitanschlüssen (Spalte [2]) und Ist-Versorgungsanteil mit FTTB/H-Anschlüssen (Spalte [3]) zusammen. Die Korrelationen der Indikatoren in den Spalten 1 und 2, 2 und 3 sowie 1 und 3 belaufen sich auf 0,42, 0,43 und –0,23.
Gebiet | Zahl Haushalte und Unternehmen | Potenzial EWAa [1] | Ist-Versorgung | ||||
größer/gleich 1 GBit/s [2] | FTTB/H [3] | Rang [1] | Rang [2] | Rang [3] | |||
Bundesrepublik Deutschland | 44.954.290 | 91% | 67,8% | 18,5% | n.a. | n.a. | n.a. |
Land Schleswig-Holstein | 1.608.630 | 93% | 84,8% | 41,6% | 8 | 4 | 2 |
Freie und Hansestadt Hamburg | 1.108.871 | 98% | 98,2% | 44,5% | 1 | 1 | 1 |
Land Niedersachsen | 4.274.419 | 88% | 74,3% | 30,3% | 13 | 5 | 3 |
Freie Hansestadt Bremen | 398.898 | 98% | 91,4% | 10,4% | 1 | 3 | 13 |
Land Nordrhein-Westfalen | 9.454.423 | 96% | 72,7% | 18,9% | 6 | 6 | 7 |
Land Hessen | 3.359.675 | 97% | 66,3% | 12,7% | 5 | 8 | 9 |
Land Rheinland-Pfalz | 2.176.707 | 92% | 58,0% | 7,8% | 9 | 11 | 15 |
Land Baden-Württemberg | 5.752.371 | 92% | 69,2% | 11,3% | 9 | 7 | 11 |
Freistaat Bayern | 7.027.574 | 82% | 65,5% | 19,4% | 15 | 9 | 6 |
Land Saarland | 523.184 | 98% | 59,8% | 4,6% | 1 | 10 | 14 |
Land Berlin | 2.193.147 | 98% | 96,7% | 11,7% | 1 | 2 | 12 |
Land Brandenburg | 1.394.826 | 86% | 49,4% | 27,7% | 14 | 13 | 4 |
Land Mecklenburg-Vorpommern | 927.531 | 75% | 56,5% | 26,0% | 16 | 12 | 5 |
Freistaat Sachsen | 2.328.219 | 91% | 43,5% | 12,5% | 11 | 14 | 10 |
Land Sachsen-Anhalt | 1.237.332 | 90% | 34,0% | 12,9% | 12 | 16 | 8 |
Freistaat Thüringen | 1.188.483 | 94% | 39,5% | 5,8% | 7 | 15 | 16 |
a) EWA: Eigenwirtschaftlicher Ausbauanteil.
Quelle: WIK Consult Studie für das Bundesministerium für Digitales und Verkehr, 16.2.2023 (https://bmdv.bund.de/DE/Themen/Digitales/Breitbandausbau/Potenzialanalyse/datenblatt-potenzialanalyse-eigenwirtschaftlicher-ausbau-01-2023.xlsx?__blob=publicationFile); Univ.-Prof. Gerpott Analysen |
Demnach lassen sich 91 Prozent bzw. 9 Prozent der Privathaushalts-/Unternehmensadressen in Deutschland eigenwirtschaftlich ohne staatliche Subventionen bzw. nur bei staatlicher Förderung mit FTTB versorgen (siehe Spalte [1] in Tab. 1). Überdurchschnittlich ist der EWA in den drei dicht besiedelten Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen sowie im Saarland. Unterdurchschnittlich ist der EWA in Mecklenburg-Vorpommern, Bayern und Brandenburg. Es fällt auf, dass in Schleswig-Holstein und Niedersachsen zwar der EWA unter dem Mittelwert Deutschlands liegt, aber die Indikatoren in den Spalten [2] und [3] überdurchschnittliche Ausprägungen haben. Dies spricht dafür, dass die Regierungen dieser zwei Bundesländer herausragend früh günstige Bedingungen für den Ausbau von Gigabitnetzen kreiert haben. Hingegen ist gemäß der Untersuchung von Baischew et al. trotz hohem EWA die Schaffung solcher Voraussetzungen in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt weniger gut gelungen. Polemisch könnte man die beiden zuerst erwähnten Bundesländer als Gigabitpioniere bei wüstenähnlichen Verhältnissen und die der drei zuletzt aufgezählten Länder als Gigabitsteppen trotz hohem Grundwasser charakterisieren.
Fazit
Die vom BMDV beauftragte Studie ist methodisch auf einer Mikroebene fachlich gut vertretbar angelegt. Auf einer Makroebene überzeugen ihre Resultate jedoch nicht voll. Das zugelassene Vorgehen lässt Raum für die Vermutung, dass die Ausklammerung von Konkurrenz- und Nachfragesituationsvariablen vom BMDV goutiert wurde, um den EWA für Wettbewerber von Telekom Deutschland nicht drastisch zu senken und in der Konsequenz den öffentlichen Förderbedarf, der beim Finanzministerium anzumelden gewesen wäre, nicht enorm zu erhöhen. Das BMDV sollte dieser Überlegung rasch entgegentreten, indem es die Analysen von Baischew und Kollegen durch Einbezug von Wettbewerbs- und Wirtschaftskraftaspekten erweitern lässt.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Torsten J. Gerpott leitet den Lehrstuhl für Unternehmens- und Technologieplanung an der Mercator School of Management Duisburg der Universität Duisburg-Essen.