Editorial: Erst fragen, dann sperren
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat Sperrungen von Facebook unter die Lupe genommen.
Bild: picture alliance/dpa | Uli Deck
Immer dann, wenn ein politisches Thema heiß läuft, gerät
Facebook zwischen die Fronten: Die einen posten hetzerische
Beiträge, teils mit Aufruf zur Gewalt, die anderen fühlen sich
beleidigt und fordern die Löschung. Das Moderationsteam, das
über diese Fälle dann entscheiden muss, ist eine der Kernkompetenzen
jedes sozialen Netzwerks. Löscht es zu viel, sind die User wegen
der Zensur sauer und suchen sich andere Plattformen, wo sie freier
sprechen können. Löscht es zu wenig, fühlen sich zu viele User
beleidigt - und suchen sich ebenfalls andere Plattformen.
Das Problem ist nun, dass inzwischen ein erheblicher Teil des politischen Diskurses über Plattformen wie Facebook läuft - und sich das Löschteam folglich nicht nur dann einschaltet, wenn Andi seinen Widersacher Stefan, der ihm gerade die Freundin ausgespannt hat, ein "fettes Arschloch" nennt und unvorteilhafte Fotos von ihm postet. Sondern das Löschteam hat auch mit Fällen zu tun, in denen politisch diskutiert wird, beispielsweise in den Kommentaren zu einem Video, das einen Ausländer zeigt, der sich nicht von einer Polizistin kontrollieren lassen will, weil sie eine Frau ist. Einerseits verständlich, dass dem sexistischen Ausländer dann heftige Kommentare entgegenfliegen, andererseits hat auch er eine Menschenwürde, die trotz des Fehlverhaltens zu schützen ist.
Bei dem unter dem Video abgegebenen Kommentar: "DIE [gemeint sind wohl der im Video gezeigte Mann und seine Landsleute] WERDEN SICH HIER NIE INTEGRIEREN UND WERDEN AUF EWIG DEM STEUERZAHLER AUF DER TASCHE LIEGEN ... DIESE GOLDSTÜCKE KÖNNEN NUR EINES MORDEN ... KLAUEN ... RANDALIEREN ... UND GANZ WICHTIG ... NIE ARBEITEN." fanden dann die Moderatoren von Facebook die Grenze zur Hassrede überschritten, bei der nicht mehr die Diskussion, sondern eben nur noch das Fertigmachen des Gegenübers im Vordergrund steht. Was hat bitteschön der Sexismus des im Video gezeigten Mannes, der sich nicht von einer Frau kontrollieren lassen will, mit Mord zu tun? Dass Facebook solche Übertreibungen löscht, ist verständlich, denn sie nicht zu löschen führt sonst dazu, dass Diskussionen regelmäßig entgleiten.
Die Macht der Plattformen
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat Sperrungen von Facebook unter die Lupe genommen.
Bild: picture alliance/dpa | Uli Deck
Wie viel Macht die Social-Media-Plattformen inzwischen haben und wie viel
Einfluss sie auf die politische Diskussion nehmen, wird schon daran
deutlich, dass der Twitter-Account des Ex-US-Präsidenten mit
88 Millionen Followern immer noch gesperrt ist. Auch
Facebook hat Trump bis mindestens Januar 2023 gesperrt, und will erst dann
mithilfe von Experten erneut prüfen, ob es
immer noch ein Risiko für die öffentliche Sicherheit durch Trumps Facebook-Präsenz gebe.
Nicht ganz zu Unrecht wird den Plattformen daher vorgeworfen, mit ihren
schnellen und manchmal doch recht willkürlichen Entscheidungen zu
Beitragslöschungen und Accountsperrungen eine Art Paralleljustiz
geschaffen zu haben, die (überwiegend) von fragwürdigen Algorithmen und
unterbezahlten Moderatoren und -innen in Staaten wie den Philippinen
oder Indien ausgeübt wird.
Angesichts dieser Situation ist es nicht nur verständlich, sondern auch nötig und absolut richtig, dass sich der BGH die oberste Entscheidungsgewalt über Löschung und Sperrung zurückholt. Nicht Facebook darf über Streits zwischen deutschen Usern in letzter Instanz richten, sondern allein deutsche Gerichte.
Neue Informationspflichten von Facebook
Grundsätzlich gesteht der Bundesgerichtshof Facebook allerdings zu, in seinen Community-Richtlinien Regeln festzusetzen, unter welchen Bedingungen er Beiträge entfernt, und diese Regeln auch strenger zu gestalten als die gesetzlichen Maßstäbe zu Beleidigung oder Volksverhetzung. Allerdings verlangt der BGH - in Auslegung des § 307 BGB - im Gegenzug von Facebook, Nutzer über Beitragslöschungen und die Gründe für die Beitragslöschung zu informieren. Andernfalls würde der Nutzer durch das Entfernen nicht rechtsverletzender Beiträge einseitig benachteiligt.
Dem Nutzer muss zusammen mit der Information über die Löschung die Möglichkeit zur Rückäußerung gegeben werden. Macht der Nutzer davon Gebrauch, muss das Moderationsteam unter Einbeziehung der Argumente des Nutzers neu entscheiden, ob es die Löschung aufrechterhält. Will Facebook zudem das Konto eines Nutzers vorübergehend oder dauerhaft sperren, muss es diesen gar vorab über die geplante Maßnahme und die Gründe dafür informieren und ebenfalls eine Möglichkeit zur Rückäußerung geben.
In der Praxis eines Internetanbieters sind beide Forderungen des BGH in dieser Allgemeinheit weltfremd. Wenn ein Spammer gerade eine größere Zahl von Diskussionsgruppen und reichweitenstarken Postings mit Werbemüll flutet, dann hilft es nicht, dem anzudrohen: "Wir wollen Dein Account sperren, weil Du spamst". Der macht trotzdem weiter, und je mehr Zeit man ihm zum Antworten gibt, desto mehr wird er spammen.
Facebook steht also vor der Wahl, sich dem BGH-Urteil zu fügen oder weiterzuklagen. Dazu stehen grundsätzlich zwei Wege offen: Vor dem Bundesverfassungsgericht könnte Facebook wegen des Eingriffs in seine Gewerbefreiheit klagen oder vor dem EuGH wegen Nichtbeachtung von Europarecht. Vor dem Bundesverfassungsgericht müsste Facebook - beispielsweise durch Ausdrucke der abertausenden Werbemüll- und Hasspostings, die sie täglich entfernen müssen - klar darlegen, dass eine Vorabinformation aller User vor der Sperrung nicht durchführbar ist und das Geschäftsmodell insgesamt infrage stellen würde. Die Richter könnten dann einer Unterscheidung in "Androhung der Sperre im Regelfall", wenn ein Nutzer vorübergehend überreagiert, und "sofortiger Sperre bei sehr schwerem Verstoß" zustimmen.
Alternativ könnte Facebook in den AGB für seine deutschen User auch die hier skizzierte "bedingte Anhörung" ergänzen, und dann abwarten, bis ein erneuter Fall bis zum BGH hochgeklagt wird. Wenn dann Facebook das Glück hat, dass ein anderer Senat entscheidet, erkennt dieser vielleicht die Notwendigkeit an, in bestimmten Fällen erst zu sperren und dann den User anzuhören.
Schmähkritik wiederherstellen?
Nicht ganz nachvollziehbar ist für mich allerdings die Entscheidung des BGH, die Äußerung "DIESE GOLDSTÜCKE KÖNNEN NUR EINES MORDEN ... KLAUEN ... RANDALIEREN ... UND GANZ WICHTIG ... NIE ARBEITEN." wiederherstellen zu lassen. Zu dieser hat die Vorinstanz, das OLG Nürnberg, bereits ausführlich Stellung genommen. Nürnberg hat es zwar abgelehnt, schon in dem Wort "Goldstücke" eine Formalbeleidigung zu sehen, schreibt aber auch, dass dieser Satz: "ein Unwerturteil über den Charakter der Personen [äußert], das ihnen jegliche Fähigkeit zu einem halbwegs angepassten Leben in einer zivilisierten Gesellschaft abspricht." Wenn das keine Schmähkritik ist, was dann? Wie gesagt, es geht damit los, dass ein Mann die Kontrolle durch eine Polizistin verweigert. Dieses Fehlverhalten kann und darf, ja muss sogar kritisiert werden! Aber den Menschen, die so etwas tun, dann jegliche Fähigkeit zu einem halbwegs angepassten Leben abzusprechen, das geht zu weit.
Es ist gut, dass Facebook verpflichtet wird, mehr mit Usern zu kommunizieren und Beitragslöschungen und Kontosperrungen zu begründen. Das kann sogar, wenn Facebook dieser Pflicht angemessen nachkommt, zu einer Versachlichung der Diskussion führen und die Zahl der Entgleisungen reduzieren. Die Pflicht, auch solche Nutzer von einer geplanten Sperre zu informieren, die offensichtlich keinerlei Interesse an der Einhaltung der Nutzungsbedingungen haben, ist aber weltfremd. Spammern kommt man nur durch schnelle und harte Reaktion bei, nicht durch Diskussionen.