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Editorial: Warum Higgs sich im Grabe umdrehen würde

Der aktuelle Medienrummel schadet der physikalischen Forschung
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Als Diplom-Physiker verlasse ich aus aktuellem Anlass heute einmal das Gebiet der Telekommunikation, und widme mich dem Medienrummel um das immer öfter "Gottesteilchen" genannte Higgs-Boson. Ja, ich glaube, wenn er nicht dank guter Fügung noch leben würde, würde sich Peter Higgs im Grabe umdrehen, wenn er mitbekommt, was da gerade in seinem Namen mit dem von ihm postulierten Feld und den zugehörigen Teilchen veranstaltet wird. Aber auch als lebende Person ist er wahrscheinlich nicht gerade glücklich über die Aufmerksamkeit, die er erhält.

Peter Higgs Peter Higgs
Foto: dpa
In vieler Hinsicht steckt die Physik in der Krise. Mit so gut wie jeder geklärten Frage tauchten in der Vergangenheit ein bis drei neue, noch fundamentalere Fragen auf. Beispiel elektrische und magnetische Kräfte: Deren Grundgleichungen - beispielsweise, wie stark das Magnetfeld um einen Draht oder eine Spule ist - sind seit über einem Jahrhundert detailliert verstanden und werden deshalb zurecht an der Schule im Grund- oder Leistungskurs Physik behandelt. Die zugehörigen Effekte haben in unzähligen Anwendungen Einzug in den Alltag gefunden, ob nun in der U-Bahn (Elektromotor) oder beim Mobilfunk (elektromagnetische Wellen).

Vertrackte elektromagnetische Kräfte

An der Uni lernt man im Physik-Studium, wie man die getrennten Gleichungen für elektrische und magnetische Kräfte zu den Maxwell-Gleichungen zusammenfasst, und so aus zwei Effekten einen macht. Man erfährt dort aber auch, dass der in der Schule gelernte Ansatz, elektrische und magnetische Felder als etwas kontinuierliches zu betrachten, falsch ist. Genauso, wie alle Dinge aus kleinsten Teilchen bestehen - wir nennen diese für gewöhnlich Atome - bestehen auch die Felder aus Partikeln. Für elektrische und magnetische Felder werden diese Feldteilchen als Photonen bezeichnet. Freilich nehmen wir im normalen Alltag einzelne Atome genausowenig war wie einzelne Photonen. Dazu sind diese einfach zu klein (Atome) oder von der Wirkung zu schwach (Photonen).

Nun hat der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman aufgezeigt, wie man die gewöhnlichen kontinuierlichen Feldgleichungen über so genannte Pfadintegrale in partikelbasierte Gleichungen umrechnet, wie man also mathematisch und physikalisch vom Makrokosmos in den Mikrokosmos gelangt. An sich ist die daraus entstandene Quantenelektrodynamik (kurz QED) eine tolle Sache, wenn da nicht ein großer Haken wäre: In den mathematischen Gleichungen tauchen während der zahllosen Umformungen etliche Werte auf, die unendlich groß sind. Damit kann man normalerweise aber nicht rechnen!

Nur durch einen mathematischen Kunstgriff, die so genannte Renormierung, lassen sich die Formeln der QED im Schach halten. Dabei ändert man bestimmte mathematische Ausdrücke, die eigentlich unendlich ergeben, kurzerhand so ab, dass das gewünschte Ergebnis rauskommt, zum Beispiel die Masse oder die Ladung des Elektrons. Die anderen, nicht unendlichen Teile der Formeln liefern dann tatsächlich sinnvolle und in vielen Fällen bis 10 oder mehr Stellen hinter dem Komma experimentell geprüfte Ergebnisse.

Doch warum dieser Kunstgriff der Renormierung so gut funktioniert, ist bestenfalls ansatzweise verstanden. Am Ende sieht es wie ein einfacher Schüler-Trick aus, der in einer Prüfung die Teile einer Formel, mit denen er nichts anfangen kann, einfach durch die Werte (wie Elektronmasse und -Ladung) ersetzt, die er gerne dort hätte. Alles in der Hoffnung, dass dem Korrektor der doppelte Fehler (der anfängliche, wo er sich verrechnet hat, so dass die Formel überhaupt so kompliziert wurde, und der zweite, wo er das kurzerhand "korrigiert") nicht auffällt.

Satz von Einzeltheorien mit Widersprüchen

Solche Probleme gibt es an vielen Stellen in der modernen Physik. Zum Beispiel lassen sich auch mit dem Renormierungs-Kunstgriff die beiden wichtigsten und bestgeprüften Theorien - Einsteins allgemeine Relativitätstheorie und die vorgenannte QED, partout nicht zusammenbringen. Die Stringtheorien, die genau dieses versuchen, liefern monströse Theoriegebäude mit zahllosen Extra-Dimensionen und noch viel mehr freien Parametern, von denen keiner auch nur den Ansatz einer Ahnung hat, wie man die alle berechnen könnte.

Ebenso ergeben sich aus der Beobachtung des Kosmos sehr, sehr starke Anhaltspunkte für die Existenz von so genannter "dunkler Energie" und "dunkler Materie", wo die aktuelle Physik ebensowenig den Ansatz einer Ahnung hat, welche Energieformen oder Teilchen dahinter stecken könnten.

Immerhin klappt aber die Ergänzung der QED um eine weitere Theorie, nämlich die der so genannten schwachen Wechselwirkung. Dass die schwache Wechselwirkung schwach ist, ist übrigens gut für uns, bewirkt sie doch, dass die Sonne ihren Wasserstoffvorrat über Jahrmilliarden langsam zu Helium fusioniert und währenddessen gleichmäßig leuchtet, und nicht binnen Sekunden als riesige Supernova explodiert. Allerdings bewirkt die Schwäche der schwachen Wechselwirkung auch, dass der Atommüll aus Kernkraftwerken teils über Jahrhunderte hinweg strahlt.

Nimmt man nun die schwache Wechselwirkung in die QED mit auf, hat man das oben genannte Renormierungsproblem genau falsch herum: Es tauchen weniger dieser unendlichen Terme auf, als man an Parametern (wie die Massen oder Ladungen von irgendwas) in die Gleichungen gerne einbringen würde. Peter Higgs und (zeitgleich und unabhängig von ihm) zwei weitere Forschungsteams schlugen daher die Einführung eines weiteren Kraftfelds als Lösung für dieses Dilemma vor. Ein weiteres Feld bedeutet auch einen weiteren der Problemterme, der dann geeignet renormiert werden muss, und schon bringt man alle Parameter unter.

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