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Editorial: Warum Higgs sich im Grabe umdrehen würde

Der aktuelle Medienrummel schadet der physikalischen Forschung
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Sollte sich nun bestätigen, dass das als mathematischer Trick zur Vervollständigung der Gleichungen der QED inklusive der schwachen Wechselwirkung eingeführte Higgs-Feld und das zugehörige Higgs-Teilchen tatsächlich existieren, wäre das für die Physik ein Riesen-Schritt nach vorne. Denn es würde zeigen, dass der ganze Renormierungs-"Zauber" doch valide ist, weil man dabei auf Formeln kommt, die sogar bisher unbekannte Effekte, Teilchen und Felder vorhersagen.

Eine solche Vorhersage neuer Teilchen durch die Theorie, bevor sie entdeckt wurden, gab es bereits häufiger. Insbesondere sagte Paul Dirac 1928 voraus, dass es Antimaterie gibt. 1932 konnte Carl Anderson diese tatsächlich nachweisen. So wurden Diracs Gleichungen bestätigt, die übrigens ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg von den bereits erwähnten Maxwell-Gleichungen zur QED waren.

Von daher hofft man nun stark, dass das in Genf am CERN mit dem LHC neu entdeckte Teilchen tatsächlich das Higgs-Boson ist. Freilich ist es für eine Erfolgsmeldung noch viel zu früh. Bisher hat man noch nicht einmal geprüft, ob das neue Teilchen überhaupt die Eigenschaften hat, die man dem "Higgs" zuschreibt. Ebenso besteht die Möglichkeit, dass sich die Messung bei 125 GeV nur als Artefakt der verwendeten Messapparatur (des LHC-Speicherrings) herausstellt, oder als Programmierfehler in den verwendeten Computerprogrammen, die Abermillionen Teilchenkollissionen pro Sekunde auswerten müssen. Dass das neue Teilchen an zwei Detektoren des LHC unabhängig voneinander mit etwa derselben Energie gefunden wurde, ist zwar ein starkes Indiz, dass es nicht nur ein Messfehler eines Detektors ist. Aber beide Detektoren sind nunmal am selben Beschleunigerring installiert, und die Teams verwenden vermutlich auch Teile der Auswertungssoftware gemeinsam, so dass ein gemeinsamer Fehler möglich ist.

Fehler passieren in der Grundlagenforschung schnell. Es ist noch nicht lange her, da vermeldete das CERN die Messung von überlichtschnellen Neutrinos. Später musste das Ergebnis zurückgezogen werden: Ein nicht fest sitzendes Glasfaserkabel hatte die Kalibrierung der verwendeten hochgenauen Uhren durcheinander gebracht.

Selbst dann, wenn sich - hoffentlich - die Entdeckung eines Teilchens mit der Energie/Masse von 125 GeV in den nächsten Jahren bestätigt, kann es passieren, dass dieses nicht das gesuchte Higgs-Boson ist, weil es noch nicht einmal ein Boson ist. Viele Physiker hoffen sogar darauf, weil ein Ergebnis, das das aktuelle Standardmodell nicht bestätigt, möglicherweise auch aufzeigt, wo in den bisherigen Theorien ein Fehler steckt, und damit eher geeignet ist, den oben genannten Stillstand der Physik aufzubrechen, als die Bestätigung eines weiteren Details des Standardmodells, die nur wieder viele neue Fragen aufwirft.

Gottes Schöpfung

Aber selbst dann, wenn in einigen Jahren oder vielleicht auch erst Jahrzehnten bestätigt wird, dass das neue Teilchen vom CERN sich tatsächlich verhält wie das Higgs-Boson und ein Kraftfeld analog dem vorhergesagten Higgs-Feld vermittelt, selbst dann ist es definitiv nicht das "Gottesteilchen": Die oben genannten Probleme der Physik, angefangen von der Integration der Gravitation mit den anderen Wechselwirkungen bis hin zur Suche nach dunkler Materie und dunkler Energie, bleiben unverändert weiterhin offen. Dem Verständnis von Gottes Schöpfung kommen wir mit dem Gottesteilchen also allenfalls einen kleinen Schritt näher.

Angesichts des Gesagten ist es Schade, dass der starke Medienrummel veranstaltet wird. Zwar ist es angesichts des genannten Stillstands verständlich, dass die Physiker nach Durchbrüchen ringen und jeden kleinsten Erfolg sofort medial aufbauschen. Andererseits spielt man damit genau den Feinden in die Hände, beispielsweise den Kreationisten. Denn die CERN-Meldung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit korrigiert oder zumindest präzisiert werden müssen, und dann wird sofort wieder argumentiert werden: "Seht her, die Physiker wissen doch nicht so genau bescheid, und schon gar nicht mit 'Gottesteilchen'; die einzige Wahrheit steht in der Bibel".

Dabei haben die Naturwissenschaften im Allgemeinen und die Physik im Speziellen allen Grund, allen aktuellen Stillstand zum Trotz stolz auf ihre Errungenschaften zu sein: Ohne die durch sie ermöglichten Fortschritte in der Medizin und Technik wäre es unmöglich, dass über 7 Milliarden Menschen auf der Erde leben und mit Nahrung und Energie versorgt werden. Im Gegenteil, der Stillstand bedeutet auch, dass physikalische Gesetze über Generationen hinweg Bestand haben und Ingenieure ihr erlerntes Wissen sorgenfrei weitergeben können. Ein Rückfall in kreationistische oder gar mittelalterliche Glaubensgrundsätze wie: "Die Erde ist eine Scheibe" würde hingegen ausnahmslos allen Menschen schaden.

Auch beinhaltet die physikalische "Schöpfungslehre" keine Geringstellung des Schöpfers, sondern das genaue Gegenteil: Wie viel genialer ist es, in einem singulären Augenblick (Urknall) Raum und Zeit so zu erschaffen, dass diese den "Keim des Lebens" in sich tragen, so dass gut 13 Milliarden Jahre später intelligente Lebewesen entstehen, die über ebendiese Schöpfung sinnieren, als einfach nur als "allmächtiger" Gott vor gut 10 000 Jahren Himmel und Erde voneinander zu trennen und den Menschen als Ebenbild seiner selbst zu schaffen?

Ob Peter Higgs auf der Pressekonferenz des CERN die vorgenannten Dinge im Kopf umgingen, weiß ich nicht. Laut "Zeit online" war er aber auffallend schüchtern, hielt keine Rede, sondern dankte einfach den "Tausenden Physikern und Technikern, die den weltgrößten Teilchenbeschleuniger zu einem Erfolg gemacht haben". Ob das Higgs wirklich das Higgs ist, werden wir erst in einigen Jahren wissen.

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